Herr Voges, Sie wurden in Düsseldorf geboren und sind in Krefeld aufgewachsen. Hatten Ihre Eltern auch mit Kunst zu tun?
Kay Voges: Mein Vater ist Programmierer und meine Mutter Therapeutin. Sie waren in der Freikirche engagiert, die mich theatralisch sehr geprägt hat, auch weil in der Bibel große Geschichten erzählt werden: dass man aus Wasser Wein macht oder das Meer teilt, um ein Volk hindurchzuführen. Oder dass ein Vater seinen Sohn opfern muss. Diese archaischen Bildwelten prägen mich bis heute und inspirieren meine Arbeit.
Ihr Kollege Martin Kušej, der das Burgtheater leitet, war Ministrant. Er betont ebenfalls, dass ihn die Kirche als Kind fasziniert hat.
Voges: Das kann ich verstehen. Die Inszenierung in der Kirche hat immer etwas Magisches, all diese Rituale und der Duft nach Weihrauch. Ich bezeichne unser Theater ja auch als Kirche für Zweifler.
Sind Sie denn noch immer religiös?
Voges: Das Interesse am Religiösen habe ich nie verloren. Anstatt zu glauben, bin ich mittlerweile ein Suchender. Und diese Suchbewegung, die habe ich in der Kunst ausführen dürfen. In bin von der Kirche in der Pubertät dann in eine Punk-Band gewechselt.
Sie wollten also gar nicht Theaterregisseur werden?
Voges: Theater habe ich schon in der Waldorfschule gespielt. Ich kann mich noch an einen desaströsen Auftritt in einer Dramatisierung von Albert Camus’ Roman »Die Pest« erinnern, wo ich vor 400 Menschen stand und ein Blackout hatte. Mir fiel der Text partout nicht mehr ein. Da war mir klar, Schauspieler wird keiner aus mir. Als Punkmusiker bin ich über drei Akkorde aber auch nie hinausgekommen. Ich habe einfach herumgeschrien. Nach der Schule habe ich erst mal eine Ausbildung zum Erzieher gemacht und in einer Wohngruppe mit schwer erziehbaren Jugendlichen gearbeitet. Ich war aber auch als Filmvorführer tätig und habe eigentlich immer nach einer Kunstform gesucht, in der ich mich ausdrücken kann.
Wie sind Sie dann zur Regie gekommen?
Voges: Über viele Umwege. Ich habe es mit Malerei versucht, hatte sogar einige Ausstellungen, aber kam mit dem Zeichnen schnell an eine Grenze. Über die Fotografie bin ich dann bei der Videokunst gelandet, habe nächtelang selbst geschnitten und hatte erstmalig Schauspielerinnen und Schauspieler vor der Kamera. Aber ich war erstaunt, warum die bei mir so schlecht sind. Ich wollte doch Filme wie Ingmar Bergman machen.
Der berühmte schwedische Filmemacher Ingmar Bergman hat ja auch im Theater gearbeitet.
Voges: Genau, deshalb bin ich ja auch auf die Idee gekommen, im Theater Krefeld zu fragen, ob ich bei ihnen lernen kann, so gut wie Ingmar Bergman zu werden. Die fanden das sehr lustig und meinten, sie wüssten nicht, ob sie mir das beibringen können. Aber ich kann ja mal auf ein Praktikum zum Kaffeekochen vorbeikommen. Ich wurde dann Assistent und schon bald ans Theater Oberhausen vermittelt, wo ich meine Lehrzeit unter dem Intendanten Klaus Weise absolvierte, der noch Regieassistent unter dem legendären Regisseur Peter Zadek gewesen war. Weise hat mir dann das Einmaleins des Theaters beigebracht.
Was hat Ihnen am Theater gefallen?
Voges: Eigentlich bin ich Regisseur aus einem Defizit heraus geworden: Ich war nicht gut genug als Kameramann, kein talentierter Schauspieler, kein Literat. Ich konnte alles ein bisschen und hatte für alles eine große Leidenschaft. Als Regisseur habe ich dann gemerkt, ich kann mich ja mit Profis umgeben, vielleicht liegt meine Stärke nicht in einer Sache, die ich besonders gut kann, sondern im Zusammenbringen von all diesen Dingen, die ich liebe.
Das klingt bescheiden. Inszenieren sich Regisseure denn nicht gern als Genies?
Voges: Ich war nie ein Künstler, der allein in seinem Atelier sitzt und dort Welten kreiert. Ich bin immer dann am besten, wenn ich mit anderen etwas schaffen kann. Theater ist Teamsport. Deshalb liebe ich Theater ja auch so, weil es im Kollektiv stattfindet. Ich kann mit dieser Idee von Alfred Hitchcock nichts anfangen, der sagte: Mein Film ist fertig, wenn ich von meinem Schreibtisch aufstehe. Er hatte alles im Kopf. Ich wünsche mir eigentlich das Gegenteil: dass ich auf eine Probe gehe und die Szene besser wird, als ich sie mir vorstellen konnte.
Viele Regisseure sind cholerisch. Ihnen eilt der Ruf voraus, ein sympathischer Chef zu sein.
Voges: Es gibt dieses altmodische Bild, dass gute Kunst nur aus Krieg und Konflikt entsteht. Ich kann das nicht unterschreiben. Mir ist Vertrauen wichtig, einen Ort zu kreieren, wo man die Erlaubnis hat, scheitern zu dürfen. Ich glaube, einen angstfreien Raum zu schaffen, ist eine meiner Hauptaufgaben als Regisseur und Intendant.
Sie sind seit der Spielzeit 2020/21 Direktor des Wiener Volkstheaters. Aufgrund der Pandemie war Ihr Haus aber die meiste Zeit geschlossen. Wie gehen Sie damit um?
Voges: Das waren wirklich sehr schwierige eineinhalb Jahre. Wir wollten nach der Sanierung des Theaters endlich starten, und dann mussten wir nach 70 Tagen wieder zusperren. Wir wollen das Volkstheater-Ensemble für die Wienerinnen und Wiener sein und haben noch gar nicht richtig loslegen können. Aber was soll ich jammern? Ich glaube, wir müssen Geduld haben und die Zeit nutzen. Ich habe das Gefühl, durch die Krisenzeit wachsen wir in gewisser Art und Weise noch existenzieller zusammen.
Als Theaterintendant braucht man Managementwissen. Dafür gibt es in Ihrem Bereich allerdings keine Ausbildung.Wie haben Sie gelernt, Bilanzen zu lesen?
Voges: Das Leben ist ein permanentes Lernen. Was ich nicht kann, das muss ich mir beibringen. Da muss man sich die richtigen Menschen suchen oder die richtigen Bücher kaufen. Ich bin umgeben von einem tollen Team, das ist wie beim Regieführen, da halte ich auch alles zusammen, aber vertraue auf meine Mitspielenden, damit wir ein gemeinsames Ziel erreichen.
Wie viel Prozent Ihres Jobs sind Management, wie viel Kreativität?
Voges: Als Intendant würde ich sagen: 70 Prozent Management und 30 Prozent Kunst. Aber selbst bei den weniger kreativen Aufgaben sucht man doch nach einem künstlerischen Zugriff auf die Welt. Ich glaube, Intendant zu sein, ist ein kommunikativer Beruf. Natürlich ist es teilweise auch anstrengend, sich mit Verordnungen, Feuerwehrbestimmungen und Kollektivverträgen herumzuschlagen. Andererseits ist es auch eine Horizonterweiterung, dass man nicht nur an seiner eigenen Inszenierung herumbastelt.
Sie haben mit sehr unterschiedlichen Menschen zu tun, von pragmatischen Politikern über schwierige Kunstschaffende bis zu einem sehr breit aufgestellten Publikum. Wie schafftman diesen Spagat, mit allen richtig zu reden?
Voges: Wenn man auf alle mit dem gleichen Respekt zugeht, muss man sich gar nicht verbiegen. Ich glaube, das hat etwas mit dem Menschenbild zu tun, das ich habe. Ich fordere von mir, aber auch von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dass der Respekt vor anderen an allererster Stelle steht. Da ist es egal, ob es der Herr an der Pforte ist oder die Frau Staatssekretärin. Sie sind beide genau gleich wichtig für unser Theater. Jeder hat seine Perspektive auf die Welt, wenn ich versuche, diese nachzuvollziehen, werde ich auch reicher im Denken. Wenn ich verstehe, wie es einem Bühnentechniker geht, jemandem in der Buchhaltung oder der Schauspielerin, die auf der Bühne steht, dann kann ich beginnen, ein guter Intendant zu sein.
Narziss sollte man also keiner sein?
Voges: Narzissten sind die größte Gefahr für die Kunst. Und für eine Theaterleitung erst recht. Ich kann dieses Theater nicht für mich tanzen lassen, damit ich nach außen hin gut dastehe. Wir müssen gemeinsam arbeiten. Wir sind das Volkstheater: Das sind rund 200 Mitarbeitende. Wir siegen zusammen und wir scheitern zusammen. Dieses Bewusstsein möchte ich haben. Keiner steht morgens auf und sagt: Heute arbeite ich für Kay Voges. Das ist absurd. Wir arbeiten gemeinsam, um den Menschen dieser Stadt eine gute Zeit zu bieten.
Theater ist kein 9-to-5-Job.Wie kann es gelingen, dass einen diese Tätigkeit nicht auffrisst?
Voges: Ich weiß gar nicht, ob das sein muss. Man bekommt doch auch unfassbar viel geschenkt auf einer Probe. Ich gehe oft die letzte Stunde vor Vorstellungsende in den Saal und schaue, wie das Publikum reagiert. Welche Energie im Publikum herrscht. Aber es stimmt schon, da muss ich fast mit einem Klischee kommen: Theater ist eher Berufung als Beruf. Es ist definitiv eine Lebensaufgabe. Ich mache das jetzt schon seit 25 Jahren und bin gewohnt, am Morgen aufzustehen und ans Theater zu denken und nachts vom Theater zu träumen. Das geht gut, weil meine Ehefrau Kostümbildnerin ist und wir viel zusammenarbeiten. Sie ist eine ähnlich Besessene, so gibt es keine Eifersucht auf die Kunst.
Ist es nicht gerade dann schwierig, Abstand zu bekommen, wenn man auch daheim noch über das Theater spricht? Wie schalten Sie ab?
Voges: Absolut. Wenn Theaterferien sind, genießen wir die Zeit sehr bewusst. An spielfreien Wochenenden wird aufwendig gekocht, geschaut, was ist in der Welt los. Die Sommerpause nutzen wir für Reisen, um den Horizont zu erweitern und nicht immer im eigenen Saft zu schwimmen. Ich bin zuversichtlich, dass es diesen Sommer klappen wird, fünf Wochen durch Amerika zu reisen, um neue Impulse zu sammeln.
Wird sich das denn im Spielplan niederschlagen – muss Theater internationaler werden?
Voges: Wir leben in einer globalisierten Gesellschaft. Zu sagen, wir schließen uns ab und bleiben ein kleines Vorgartentheater, kann keine Option sein. Wir müssen die Geschichten der Welt auf die Bühne bringen. Das versuchen wir am Volkstheater, da gilt es eine Balance zu finden, junge österreichische Stimmen zu präsentieren, aber auch international zu denken. So viel kann ich jetzt schon verraten, es werden in der nächsten Saison auch Stimmen aus Nordeuropa und Südamerika bei uns zu hören sein. Wir wollen uns am Volkstheater als Europäer und Weltenbürger definieren.
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