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STUDIO! Ausgabe 2/2021

Coverstory: Digitalisierung war gestern

Aber die digitale Revolution, die beginnt gerade erst:
Welche neuen Produkte, Märkte und Möglichkeiten
werden die Wirtschaft auf den Kopf stellen und etablierte
Unternehmen in einen Überlebenskampf stürzen?

Text: Gerhard Mészáros

Falco führte mit »Der Kommissar« gerade die österreichische und deutsche Hitparade an, als die Digitalisierung der Musikbranche voll zum Durchbruch kam. 1982 gingen die ersten Compact Discs in Serienproduktion, womit Schallplatte und Kassette ins Reich der Geschichte verbannt wurden. Doch hat sich dadurch wirklich so viel geändert? »Das Geschäftsmodell der CD folgte der gleichen Logik wie jenes der Schallplatte«, sagt Sebastian Eschenbach, Leiter des Department of Digital Economy an der FHWien der WKW. Die wirkliche Revolution kam erst Jahrzehnte später: mit Spotify und anderen Streamingdiensten. »Da änderte sich plötzlich, wer mit der Musik Geld verdient«, so Eschenbach. Was Anfang der 1980er-Jahre passierte, kann man als Digitalisierung bezeichnen: im Wesentlichen ein technischer Wandel. Spotify und Co stehen für etwas ganz anderes, nämlich für die digitale Transformation – für neue Anwendungen, neue Produkte, neue Geschäftsmodelle, die durch die Technologie ermöglicht werden.

© Gettyimages/Jorg Greuel/Egger & Lerch

Computer gibt es seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Doch die wirklichen Umwälzungen in Wirtschaft und Gesellschaft nehmen gerade erst Gestalt an. Damit zeigt sich ein typisches Muster von technischen Revolutionen: Zu Beginn wird die Basistechnologie eingeführt, und erst mit einiger Verzögerung tauchen die Anwendungen auf, die die Wirtschaft auf den Kopf stellen. Für Unternehmen ist es entscheidend, ihren Weg durch diese Revolution zu finden. Das heißt: nicht nur bestehende Prozesse zu digitalisieren und damit effizienter zu machen, sondern sich in der digitalen Welt neu zu erfinden. Denn: »Sie können davon ausgehen, dass alle Branchen auf den Kopf gestellt werden«, prognostiziert Eschenbach. »Die Arbeitshypothese, dass es so bleibt wie bisher, ist definitiv falsch. Vergessen Sie’s.« Außer vielleicht in Nischen, manche kaufen schließlich immer noch – oder wieder – Schallplatten. Aber, so Eschenbach: »Für die meisten geht es ums Überleben, oder noch besser: um ein neues Leben.«

Die digitale Zukunft steht auf zwei Pfeilern

Einige neuartige Geschäftsmodelle, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wären, stellt STUDIO! auf den folgenden Seiten vor. Was noch alles kommt, kann zwar niemand im Detail vorhersagen. Aber vor allem zwei Grundzüge dürften diese neuen digitalen Geschäftsmodelle auszeichnen, meint Eschenbach. Zum einen die Plattformökonomie beziehungsweise das Prinzip digitaler Ökosysteme. Beispiele sind Amazon, wo auch unabhängige Händler ihre Produkte anbieten, oder Booking.com, eine Plattform für die Zimmervermietung. Hochschulen wiederum bieten einzelne Kurse in digitaler Form auf neuen Bildungsplattformen an. Die Herausforderung für Unternehmen lautet hier: Wie mache ich meine Produkte plattformtauglich? Oder sie wagen sich gleich in die Königsdisziplin vor und gründen eine eigene Plattform für ihre Branche.

Der zweite Grundpfeiler zukünftiger Geschäftsmodelle: die datengetriebene Individualisierung. »Die digitale Transformation ist ganz wesentlich eine Transformation zu einem Datengeschäft«, so Eschenbach. Ein Beispiel sind neuartige Pay-per-Use-Geschäftsmodelle, wie sie etwa linx4 entwickelt hat. Ein anderes findet sich in der Landwirtschaft: Sogenanntes »Precision Farming« ermöglicht es Bauern, kleine Bereiche ihrer Äcker unterschiedlich stark zu bewässern und zu düngen, je nach den aktuellen Bodeneigenschaften. Die Basis für das maßgeschneiderte Vorgehen ist die digitale Datenverarbeitung. Das Ergebnis sind höhere Erträge und eine Entlastung der Umwelt, weil unterm Strich weniger bewässert oder gespritzt werden muss. Die industrielle Revolution lebte von Skalierung und Massenproduktion, die digitale basiert auf Individualisierung und maßgeschneiderten Lösungen.

© Gettyimages/Jorg Greuel/Egger & Lerch

»Der Mensch ist die größte Baustelle«

»Die große Frage derzeit ist: Was macht die Menschheit mit den neuen Möglichkeiten?«, sagt Harald Winkelhofer. Noch vor der Einführung des iPhones gründete er das Mobile-Marketing-Unternehmen IQ mobile, das schließlich von Dentsu Aegis übernommen wurde. Heute ist er Mentor für Start-ups und Lektor an der FHWien der WKW. Technologische Fragen würden überall diskutiert, aber das sei nur die Spitze des Eisbergs. Darunter liege der wirklich große Brocken, nämlich die Implementierung in die Unternehmen: »Es geht weniger um technologische Hürden, sondern darum, welchen Wandel die Menschen akzeptieren. Die größte Baustelle ist der Mensch.« Ängste vor Veränderung schaffen Widerstand in der Belegschaft. Schließlich würden sich mit der Technologie oft auch die Prozesse ändern – und alles würde schneller, flexibler werden. Auch wirtschaftliche Interessen können im Weg stehen. So wäre die Fernwartung von neuen IT-lastigen Autos heutzutage kein Problem mehr, aber die Kfz-Werkstätten hätten nun mal andere Interessen, so Winkelhofer: »Es gibt einen großen ›Gap‹ zwischen dem technisch Möglichen und dem, was wir in der Wirtschaft tatsächlich vorfinden.« Welche Skills braucht es daher, um die digitale Transformation zu gestalten? Winkelhofer: »Neben der fachlichen Fitness vor allem Empathie. Es braucht Sozialkompetenz, um Ängste abzubauen und alle mit an Bord zu holen. Das wird in Zukunft entscheidend sein für den Erfolg von Unternehmen.«

Eine Maschine als Dienstleistung

Paul Bruckberger hat ein Fintech-Unternehmen gegründet, über das Produktionsbetriebe Maschinen leasen und nach dem Pay-per-Use-Prinzip bezahlen können. Die Basis bildet das Internet der Dinge.

In der Industrie ist die Digitalisierung mittlerweile weit fortgeschritten: Neue Maschinen verfügen in der Regel über Technologie, die Nutzungsdaten sammeln und über Schnittstellen mit Internet-of-Things-Plattformen teilen kann. »Daten sind heute auf breiter Basis verfügbar«, erklärt Paul Bruckberger. »Die Frage ist, wie können wir sie sinnvoll verwenden?« Seine Antwort: linx4. Gemeinsam mit seinem Vater gründete der Absolvent der FHWien der WKW 2018 das Unternehmen, dessen Geschäftsmodell noch vor wenigen Jahren mangels Daten nicht umsetzbar gewesen wäre.

linx4 setzt auf den Trend der Sharing Economy, genauer gesagt auf das Prinzip Equipment-as-a-Service (EaaS). Die Idee: Produzierende Unternehmen mieten eine neue Maschine und bezahlen dafür einen monatlichen Betrag, dessen Höhe von der Nutzung abhängt. Das funktioniert grundsätzlich für jede Branche, von der Lebensmittel- bis zur Metallindustrie, von Automobil- bis zu Kunststoffherstellern. Die Vorteile: Der Cashflow wird optimiert, das Investitionsrisiko geteilt. Das funktioniert natürlich nur, wenn man genau und verlässlich messen kann, wie intensiv die Maschine genutzt wird.

© linx4

Es braucht mehr als Daten

Allerdings: »Wir haben relativ rasch bemerkt, dass die Daten alleine nicht für ein gutes Produkt ausreichen«, so Bruckberger. Ein Problem: Der Maschinenverkäufer muss am Anfang auf einen Haufen Geld verzichten und trägt zudem das Risiko für die Auslastung. linx4 hat daher eine neue Finanzierungslösung entwickelt: Ein Maschinenfonds kauft die Maschine vom Hersteller und verleast sie dann auf Nutzungsbasis an einen Unternehmenskunden. Die Maschinennutzer haben zudem den Vorteil, dass sie die Maschine nicht in die Bilanz aufnehmen müssen. Investitionskosten werden zu Betriebskosten, was die Kennzahlen verbessert. »Unsere eigentliche Innovation ist das Finanzierungsprodukt in Kombination mit den Internet-of-Things-Daten rund um das EaaS-Modell«, erklärt Bruckberger. Für institutionelle Investoren – von Pensionskassen bis zu Privatbanken – eröffnet sich mit dem Maschinenfonds für Pay-per-Use-Leasing eine neue Anlagemöglichkeit als Alternative zu klassischen Leasingfonds. linx4 hat jedenfalls große Pläne: Schon bald ist die Finanzierung in über 20 Ländern verfügbar, so Bruckberger.

»Reisedaten sind pures Gold«

Was Airbnb von Buchungsplattformen unterscheidet und wie künstliche Intelligenz in Zukunft die perfekte Reise maßschneidert, erklärt Tourismusexperte Daniel Amersdorffer.

Ein abgelegenes Schutzhaus im hintersten Zillertal wird von Touristen überrannt – auch das ist eine Folge der Digitalisierung. »Scenic photo travelling« nennt das Daniel Amersdorffer, Co-Gründer des Beratungsunternehmens Yukon Consulting in München. Junge Leute aus aller Welt machen sich auf die Jagd nach Fotomotiven, die auf Instagram und Co gerade angesagt sind. Wie etwa die Hängebrücke nahe der Olpererhütte, die zum beliebtesten Foto-Spot in Tirol avanciert ist.

Hotels kämpfen noch mit diesen Veränderungen, viele verfügen nicht einmal über die E-Mail-Adressen ihrer Kunden. Dabei haben manche Umwälzungen schon vor über zehn Jahren begonnen. Booking.com hat die Vertriebsstrukturen über den Haufen geworfen, heute kommen durchschnittlich 30 Prozent der Hotelgäste über Buchungsplattformen. Amersdorffer: »Die disruptivste Entwicklung bisher aber war Airbnb. Damit entstand nicht nur ein neuer Vertriebskanal, sondern ein neues Produkt.« Mit einem Klick ein privates Zimmer in Barcelona oder in einem anderen Ort weltweit zu buchen, das gab es vorher nicht. »Airbnb hebelt das klassische Geschäftsmodell des Hotels aus und gefährdet sein Kernprodukt, das Hotelzimmer.«

Reiseberatung mit Open Data

Auch die Camping-Branche, die seit Jahren ordentlich boomt, wird gerade umgekrempelt. Pincamp, ein internes Start-up des deutschen Autofahrerklubs ADAC, hat sich zu einer Art Booking.com für Campingplätze in Europa gemausert. Der Weg zum Stellplatz wurde völlig digitalisiert. Pincamp kann jetzt nicht nur beim Umsatz der Campingplätze kräftig mitschneiden. »Der ADAC hat genaue Informationen über das Reiseverhalten von 20 Millionen Nutzern«, so Amersdorffer. »Diese Kundendaten sind pures Gold. Man kann sie auf unterschiedliche Weise nutzen.« Man muss schließlich vor allem wissen, was gerade gefragt ist. »Google ist auch nicht bei seinem Kerngeschäft geblieben, sondern hat sich wie ein Krake in unterschiedliche Lebensbereiche der Menschen hineinentwickelt.«

Für Amersdorffer besonders in Zukunft spannend: Die Entwicklung einer Open-Data-Infrastruktur im Tourismus. »Da werden alle Daten in einen weltweiten Topf geworfen. Irgendwann wird das die Reiseberatung revolutionieren: Virtuelle Assistenten werden mit künstlicher Intelligenz maßgeschneiderte Reisepakete zusammenstellen.« Die Entwicklung funktionierender Geschäftsmodelle auf dieser Basis werde aber noch dauern – »mindestens zehn Jahre«, schätzt Tourismusexperte Amersdorffer.

 

Bitcoin war nur ein Vorgeschmack

Die »Tokenisierung« könnte Investitionen in Immobilien, Unternehmen und Kunst revolutionieren und für jeden leicht zugänglich machen, sagt Blocktrade-CEO Bernhard Blaha.

Die digitale Währung Bitcoin könnte nur ein Vorgeschmack auf die wirkliche Revolution sein, die dem Finanzmarkt dank der Blockchain-Technologie bevorsteht. In aller Munde ist derzeit das Thema Tokenisierung. Diese ermöglicht unter anderem, dass nicht finanzielle Vermögenswerte – zum Beispiel ein Unternehmen, eine Wohnung oder auch ein Kunstwerk – in viele kleine Anteile aufgeteilt werden und jedem Anteil ein Token zugewiesen wird, also ein eindeutiger digitaler Identifikationsnachweis. Diese Token können wie eine Aktie erworben werden – oder sogar noch unkomplizierter. Nur: »Was technisch schon umsetzbar ist, scheitert momentan noch an regulatorischen Hürden«, so Bernhard Blaha, Absolvent des Master-Studiengangs Executive Management der FHWien der WKW und seit November CEO der Luxemburger Digital-Assets-Börse Blocktrade. Derzeit brüten die Beamten der EU-Kommission über der MiCA-Verordnung (MiCA steht für Markets in Crypto Assets), von der abhängen wird, was an Märkten für digitale Assets künftig erlaubt ist. »Das könnte die Szene entscheidend beleben«, erklärt Blaha.

Blockchain ersetzt Papierkram

Die Blockchain-Technologie ermöglicht es zwei Parteien, auf einfache Weise mit allen tokenisierten Vermögenswerten Handel zu treiben. Denn die Transaktionsdaten werden fälschungssicher gespeichert, dadurch entfällt der Bedarf an Mittlern wie Banken, Kapitalanlage-Gesellschaften oder Rechtsanwälten. In unserer Gesellschaft gebe es viele Märkte mit hohen Eintrittsbarrieren, meint Bernhard Blaha: Eine Immobilie oder einen Oldtimer können sich nur wenige leisten. Und selbst wenn man genug Geld aufbringt, kann es gerade bei Immobilien lange dauern, bis die Transaktion abgeschlossen ist. Die Tokenisierung ermöglicht durch die geringen Administrationskosten eine rasche Abwicklung und eine kleine Stückelung. So könnte man mit wenig Geld etwa einen digital verbrieften kleinen Anteil an einem Oldtimer kaufen. Auch für den Kunstmarkt bietet sich die Tokenisierung an, ebenso wie für Beteiligungen an kleinen Unternehmen, für die ein klassischer Börsengang undenkbar wäre. »Das eröffnet vielen Menschen den Zugang zu Anlageklassen, die ihnen bisher verschlossen waren«, so Blocktrade-CEO Bernhard Blaha.

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