In Ihrem Buch »Die Lösungsbegabung« verraten Sie, dass Sie eine kurze Punk-Phase hatten. »Gescheitert« ist Ihre Punk-Karriere u. a. auch am Slogan »No Future« – warum?
Markus Hengstschläger: Ich war kurz einmal als Punk verkleidet, aber nie ein richtiger Punk, das ist ein Unterschied. Und, ja: Dem Slogan »No Future« konnte ich nie viel abgewinnen. Ich habe 1986 maturiert, damals war das Studium Genetik alles andere als alltäglich. Mich hat Genetik interessiert, weil ich damals geglaubt habe – was ja mittlerweile unzählige Male bewiesen wurde –, dass man damit für Patientinnen und Patienten viel Neues schaffen kann: innovative Therapien, verbesserte Diagnostik. Die Genetik macht extreme Fortschritte und ist eine zukunftsorientierte Disziplin. Als ich begonnen habe, konnte man noch kein gesamtes Genom sequenzieren, und es gab etwa auch noch keine induzierten pluripotenten Stammzellen. Aber es war absehbar, dass dieses Fach enorm progressiv ist. Deshalb hat es mich interessiert. Mit derart veränderungsstarken Fächern – wie jetzt auch der künstlichen Intelligenz – kann man die Zukunft gestalten.
Welche Erkenntnisse aus der Genetik kann man auf das Management von Unternehmen anwenden?
Hengstschläger: Man muss sich fragen: Wer hat welche Funktion in einem Unternehmen und warum? Wenn Elīna Garanča singt, Ronaldo Fußball spielt oder ein Topmanager selbstbewusst als Führungspersönlichkeit glänzt, denken viele: Das ist Talent. Das hat man – oder hat man nicht. Ja, Talente und Begabungen haben eine genetische Komponente, die Genome von zwei Individuen unterscheiden sich. Aber: Nur wenn wir die Potenziale, die Begabungen entdecken und richtig fördern, können wir sie umsetzen und es kann daraus Leistung werden. Der Mensch ist dabei nicht auf seine Gene reduzierbar.
Sie haben auch zum Kommunikationspotenzial von humanen Stammzellen geforscht: Ist die Kommunikation von Zellen im Körper mit der menschlichen Kommunikation vergleichbar?
Hengstschläger: Nicht wirklich. Wir haben etwa 22.000 Gene. Bei der Entstehung von Krankheiten oder auch bei Aspekten, die den Menschen zum Menschen machen – sein Verhalten, sein Aussehen –, gibt es zwischen diesen 22.000 Genen eine Wechselwirkung, also quasi Kommunikation. Das macht die Einschätzung, welche Gene ganz genau welche Auswirkungen auf den Menschen haben, extrem schwierig. Wir haben unzählige Wechselwirkungen auf der Ebene der Gene, auf der Ebene der Proteine oder eben auch auf der Ebene der Zellen, die Kommunikation in der Biologie ist ziemlich spannend und superkomplex. Gene, Epigenetik und die Bedeutung der Umwelt – da ist wirklich sehr viel Kommunikation im Spiel, und wir beginnen erst, diese immer besser zu verstehen.
Zwischenmenschliche Kommunikation wird auch von evolutionären Prägungen beeinflusst – diese treffen nun auf die Digitalisierung. Wohin geht die Entwicklung?
Hengstschläger: Jahrtausendealte biologische Verzerrungsmomente beschäftigen uns gerade stark: Erstens der Negativity Bias, also die Negativitätsverzerrung. Schlechte Nachrichten finden wir bedeutender als gute – der Mensch ist sensibler für das Böse als für das Gute. Es war in der Vorzeit überlebenswichtig, von Katastrophen oder Bedrohung immer möglichst schnell zu erfahren. Bis zu einem gewissen Grad ticken wir heute noch so. Mit der digitalen Transformation und den Smartphones bekommt das Motto »Only bad news are good news« eine völlig neue Dimension. Wir sind permanent online damit konfrontiert, Bad News zu verdauen, und sollten wissen, wie extrem das unsere Entscheidungen, auch im unternehmerischen Sinn, beeinflusst. Zweitens: Availability Bias. Der Homo sapiens hat die Überzeugung entwickelt, dass Dinge, für die er ein Beispiel kennt, auch öfter auftreten, als das in Wirklichkeit der Fall ist. Das ist noch immer in uns und trifft jetzt auf die Digitalisierung der Welt. Es ist noch nicht lange her, da musste man zur richtigen Zeit am richtigen Lagerfeuer oder beim Heurigen gesessen sein, um dann jemanden zu kennen, dem dieses oder jenes passiert ist. Heute liefert ein YouTube-Video von wo auch immer auf diesem Planeten das Beispiel – und schon hat man das Gefühl, jemanden zu kennen, dem das oder das passiert ist.
Negative Beispiele werden instinktiv als bedeutender eingestuft: Hemmt das Innovationen?
Hengstschläger: Ja. Wenn Sie etwas Neues machen, Neuland betreten wollen – Innovation, Change, Transformation –, dann sind viele geneigt, den möglichen negativen Auswirkungen größere Bedeutung zu geben, und es wird im Unternehmen vielleicht sogar jemand kommen, der jemanden kennt, der genau dadurch Nachteile hatte. Und dann hat man schnell die Stimmung: Na, wenn es dem da so ergangen ist, als er Neuland betreten hat – dann werde ich es lieber lassen. So prägen Negativity Bias und Availability Bias viele Entscheidungen auf allen Ebenen eines Unternehmens. Und ja, sie können Innovation dadurch hemmen.
Wie kann man dieses Dilemma lösen?
Hengstschläger: Mit echtem Leadership und dem Fokus auf unsere Lösungsbegabung. Management beschäftigt sich vor allem mit den vorhersehbaren Aspekten der Zukunft. Leadership geht auch in jenen Bereichen voran, in denen man Neues probiert. Wer allerdings Neuland betritt und dabei keine Abwägungsprozesse aufrechterhält, agiert dumm. Bei der erfolgreichen Innovation hilft es, die unterschiedlichen unternehmerischen Talentgruppen – logisch-mathematische, sprachliche, organisatorische etc. – zu fördern. Das Entscheidende dabei: Man muss diese Talente mit einer blühenden Lösungsbegabung kombinieren, nur dann kann man innovativ agieren. Der Mensch ist das lösungsbegabteste Wesen auf diesem Planeten. Er muss sich nur darauf besinnen, es üben und schließlich auch umsetzen.
Woran hapert es dabei?
Hengstschläger: Zu oft beschäftigen wir uns im Bildungswesen nur mit Lernstoff. Zu selten mit Talenten. Aber wirklich kaum mit der Förderung unserer wichtigsten Begabung, der Lösungsbegabung. Nur mit Lösungsbegabung können wir neue, bisher unbekannte Dinge entdecken und etwas schaffen, das es noch nicht gibt. Hat ein Unternehmen keine kollektive Lösungsbegabung, macht es nur das, was man schon kennt.
Sie beschäftigen sich auch intensiv mit Ethik im Kontext des digitalen Wandels. Bei Amazon werden Mitarbeiter nach digitalen Analysen entlassen, ein Algorithmus entscheidet, die Kündigung erfolgt per automatisch generiertem Mail – eine vollautomatische Kündigung ohne direkte menschliche Einwirkung. Was halten Sie davon?
Hengstschläger: Technologien sind per se nicht ethisch gut oder schlecht. Mit einem Messer können Sie Brot schneiden oder jemanden erstechen. Beim Einsatz von Technologien – egal ob Messer oder Tools der digitalen Transformation – brauchen wir immer ethische Standards, was wir mit der jeweiligen Technologie tun wollen und was nicht. Das sollten wir bei jeder Innovation mitdenken. Ich bin ein Anhänger der künstlichen Intelligenz und der digitalen Transformation im Allgemeinen und glaube, dass sie dem Menschen enorm zum Vorteil gereichen. Das heißt aber nicht, dass alles, was machbar ist, gemacht werden soll. Wir brauchen genaue Regeln, die man auch in die Anwendungen implementieren kann. Ethics by Design, Privacy by Design. Und wir brauchen digitale Bildung.
Worauf kommt es dabei an?
Hengstschläger: Digitale Bildung ist nicht Programmieren allein, sondern auch digitale Ethik oder das Wissen um die Auswirkungen meines digitalen Fußabdrucks. Ja, wir haben in den MINT-Bereichen – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik – noch Luft nach oben, und dieses Wissen und diese Kompetenzen werden wahrlich gebraucht. Wir brauchen aber auch gute Ideen, was wir mit all diesen neuen Technologien machen wollen – welche Lösungen wir erarbeiten wollen oder müssen. Ich denke, auf längere Sicht gehört die Zukunft den Empathieberufen. Berufen, in denen der Mensch den Unterschied macht. Lehrerinnen und Lehrer, Pflegerinnen und Pfleger, Jobs im Tourismus oder in der Medienbranche. Und: In allen Unternehmen ist Lösungsbegabung gefragt. Um Neuland zu betreten, Innovationen zu schaffen, Geistesblitze zu haben, Herausforderungen zu bewältigen. Dafür ist entsprechendes Wissen unverzichtbar – auch weil wir das Rad nicht immer wieder neu erfinden wollen, sondern darauf aufbauen wollen. Aber um Innovationen, auf welchen Ebenen auch immer, entwickeln zu können, braucht es für eine aktive Lösungsbegabung viele ungerichtete Kompetenzen: Empathie, soziale Kompetenzen, Teamfähigkeit, emotionale Intelligenz, kritisches Denken, Kreativität, Mut, Resilienz, Ethik, Fleiß und andere mehr. Hier wird der Unterschied entstehen. Junge Menschen müssen heute darin unterstützt werden, diese Kompetenzen entwickeln zu können.
Wann werden transhumanistische Optimierungen – also durch Technologien »verbesserte« Menschen – das Berufsleben prägen?
Hengstschläger: Dass die Konvergenz aus Gentechnik, künstlicher Intelligenz und anderen Technologien einen Menschen schafft, der unsterblich ist, nie mehr krank oder unglücklich wird und für jedes Problem eine Lösung hat – daran glaube ich nicht.
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