Frau Ayub, Sie sind 1990 geboren und 1991 mit Ihrer Familie aus dem Irak nach Wien gekommen. Ich nehme an, an die Flucht haben Sie keine Erinnerung?
Kurdwin Ayub: Nicht direkt. Meine allererste Erinnerung ist, wie mich meine Mutter um 6 Uhr früh in den Hort bringt, an einem kalten, dunklen Tag. Diese Erinnerung weckt ein trauriges Gefühl, und ich merke, dass ich mich oft in solche Trauergefühle zurückziehe, weil ich mich darin sicher fühle. Wenn ich mich frage, warum eigentlich vieles so traurig war, dann ist die Antwort: weil meine Eltern traumatisiert waren nach dem Krieg. Die Symptome dieser Trauer bekommt man als Kind natürlich mit, auch wenn man selbst an die Flucht keine Erinnerung hat.
Wie sahen Ihre Lebensumstände damals aus?
Ayub: Meine Eltern und ich haben damals noch in einem Asylheim gelebt, zu dritt in einem winzigen Zimmer. Wir hatten urwenig Geld zur Verfügung. Vormittags mussten meine Eltern einen Deutschkurs besuchen, außerdem wurde verlangt, dass sie das ganze Medizinstudium noch einmal absolvieren, obwohl beide im Irak fertige Ärzte gewesen waren. Um das zu finanzieren, haben sie als Pfleger im Krankenhaus gearbeitet. Es gab also nicht viel Zeit zur Glückseligkeit, wo etwa meine Eltern mir Kinderbücher vorgelesen hätten oder so. Ich war viel allein oder vor dem Fernseher.
Es muss aber auch eine große Erleichterung gegeben haben, dass die Flucht gelungen war, oder?
Ayub: Ja. Zugleich gab es aber Existenzängste, dass man es hier in Österreich nicht schaffen könnte, dass sich dieser Traum, diese Hoffnung, dass es besser werden könnte, nicht erfüllt. Das ist ein großer Druck gewesen, die finanzielle Unsicherheit. Sobald es möglich war, wurde ein Teil des Geldes, das hier verdient wurde, in den Irak geschickt. Wir haben sehr lange gebraucht, bis wir diese Sicherheit gespürt haben. Jetzt haben meine Eltern die normale Mittelstandssicherheit erreicht.
Wenn man diesen Background kennt, dieses Ringen um Sicherheit, dann wirkt Ihre Entscheidung, Kunst zu studieren, fast radikal. Wie kam es dazu?
Ayub: Ganz egal, woher sie stammen: Die meisten Künstlerinnen und Künstler kommen aus privilegierten Haushalten. Man braucht ein Sicherheitsnetz, solange man noch keinen Erfolg hat. Wenn jemand sagt, es gibt zu wenig Diversity in der Kunst- und Filmbranche, dann liegt es daran, dass die ganzen Randbezirke keinen Zugang zu diesen Unis haben, weil es dort keine finanzielle Sicherheit gibt. Da sollten sich die Verantwortlichen nicht im Nachhinein wundern: »Nanu, wo sind die?«
Wollten Ihre Eltern, dass Sie Medizin studieren wie sie?
Ayub: Ja. Das heißt: Ich habe mich eigentlich dazu entschlossen, nicht Medizin zu studieren. Das war eine Art Rebellion: Ich wollte immer schon Filme machen, habe mich aber nicht gut genug gefühlt, um auf einer Akademie zu studieren. Ich habe mich dann bei der TU für Architektur inskribiert, anschließend aber auf der Angewandten für Malerei und Animationsfilm beworben. Das hat mich interessiert, weil es viel experimenteller war als auf der Filmakademie und nicht so strikt. Ganz gegen meine Erwartung wurde ich dort aufgenommen. Da habe ich gesagt: Okay, ich mach’s – und habe die Architektur nach drei Tagen hingeschmissen. Das war auch gut so. Mein Eindruck war, 90 Prozent der Architekturstudenten waren einfach da, weil das Fach ein Renommee hat und sie sich dachten: »Okay, mach’ ich das mal.«
An der Angewandten war das anders?
Ayub: Ja. Allerdings war ich die ersten Monate dort regelrecht depressiv. Ich kannte niemanden. Das war schlimm. Irgendwann habe ich gecheckt, dass es funktioniert, wenn ich mein eigenes Ding mache. Mein erster Film an der Angewandten war eine Animation mit Knetmasse: »Der singende Penis« (lacht). Im Anschluss habe ich mich Richtung Performancevideos bewegt.
Damals sind Ihre ersten Kurzfilme entstanden, die dann auch rasch einen Verleih fanden und im Rahmen der Viennale gezeigt wurden. Können Sie Ihre Arbeitsweise beschreiben?
Ayub: Meine Art, Filme zu machen, ist entstanden, weil ich von daheim wusste, dass man um Sachen kämpfen muss. Weil ich also an der Angewandten noch niemanden kannte, habe ich mich selbst als Schauspielerin besetzt, selbst gedreht und selbst geschnitten. Ich habe dann schnell gemerkt, dass diese Art, sich selbst zu präsentieren, gut ankommt – es gab ja den Bezug zu Social Media. Das war der Anfang meines Kinoschaffens.
Sie haben damals auch begonnen, Musikvideos zu drehen – ging das schon in Richtung einer beruflichen Etablierung?
Ayub: Die Überlegung, was ich beruflich aus den Filmen mache, gab es damals noch nicht. Ich habe noch als Ordinationsgehilfin bei meinem Vater gejobbt. Aber natürlich wollte ich »berühmte Regisseurin« werden. Ich bin dann über die Performancekunst und das Dokumentarische zum Spielfilm gerutscht. Aber eigentlich wollte ich immer schon Spielfilme machen. Es ist sehr schwierig, die finanziert zu bekommen. Und man muss schauen, dass man möglichst viel Erfahrung sammelt, bevor man ein derart großes Projekt startet.
Spiel- und Dokumentarfilme auf die Beine zu stellen, ist sicher schwieriger, wenn man nicht auf der Filmakademie studiert, oder? Dort sind Produktion und Finanzierung Teil der Ausbildung.
Ayub: Das stimmt. Aber mein Verleih, Sixpackfilm, hat mir wichtigen Input gegeben, was das Wirtschaftliche und die Fördermöglichkeiten für Film in Österreich betrifft. Die haben mich unterstützt. Und das war mein erster Fuß im »Filmgeschäft«. 2016 habe ich meinen ersten kleinen Dokumentarfilm gedreht, »Paradies! Paradies!«, bei dem habe ich auch noch alles selber gemacht, Kamera, Ton, Inszenierung. Man ist beim Filmemachen in vielen Phasen alleine.
Und trotzdem ist Filmemachen ja Teamarbeit. Wie sieht es mit Netzwerken in Ihrer Karriere aus? Gab es die, gibt es die?
Ayub: Die österreichische Filmbranche ist klein. Auch die Festivalszene, zumal im experimentellen Bereich. Als ich das erste Mal auf der Diagonale (Anmerkung: Festival des österreichischen Films in Graz) war, kannte ich niemanden. Aber dann kamen schnell außergewöhnliche Leute auf mich zu, die mich unterstützt haben. Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir ein gut funktionierendes Filmfördersystem. Es gibt unterschiedliche Stellen, bei denen man einreichen kann. Sehr toll fand ich auch das Scriptlab, wo man Stoffe einreicht und dann von Dramaturginnen in der Entwicklung unterstützt wird, oder das Mentoring-Programm des Drehbuchforums.
Arbeiten Sie bevorzugt mit Frauen zusammen?
Ayub: Vielleicht habe ich einen Mutterkomplex (lacht), aber ich suche mir wirklich gern starke Mentorinnen. So habe ich auch Veronika Franz kennengelernt, Filmemacherin und Produzentin bei der Ulrich Seidl Film. Die ist mein Idol, würde ich fast sagen, und ich bin wirklich glücklich, dass ich über sie in der Firma gelandet bin.
Mit der Ulrich Seidl Film haben Sie Ihren Spielfilm »Sonne« produziert, der heuer auf der Berlinale ausgezeichnet wurde. Wie sah Ihre Zusammenarbeit aus?
Ayub: Veronika Franz war meine Dramaturgin, mit der ich den Stoff des Films bis zur Drehreife entwickelt habe. Es gab ja ein klassisches Drehbuch, unter anderem für die Förderinstitutionen. Am Set wurde dann viel improvisiert. Später im Projekt kam Ulrich Seidl dazu, der den Einsatz von Laiendarstellerinnen von Anfang an cool fand – ansonsten hat er sich wenig eingemischt. Die Zusammenarbeit mit beiden war toll!
Hatten Sie vorher auch Erfahrungen mit anderen Produktionsfirmen?
Ayub: Ja. Es gab Gespräche und auch schon Vorarbeit an Projekten, bei denen mir sehr viel reingeredet wurde. Das ist nichts für mich. Wenn jetzt, nach dem Berlinale-Preis, Leute kommen mit Regieangeboten, frage ich sofort: Was ist das Angebot, was sind eure wirklichen Vorstellungen? Ich möchte nicht jahrelang an einem Projekt arbeiten, nur um am Ende draufzukommen, die wollten eigentlich eine Komödie wie »Fack ju Göhte« (lacht). Ist besser, wenn alle wissen: Ich bin Experimentalkünstlerin.
Nochmals zurück zum Dreh von »Sonne«. Sie haben vier Jahre lang Szenen mit Jugendlichen gesammelt, die anfangs 16, am Ende um die 20 waren. Wie kann man da sicher sein, dass niemand während des Projekts abspringt?
Ayub: Genau das ist ja einen Monat vor dem eigentlichen Drehstart passiert! Eine der Hauptdarstellerinnen hat plötzlich die Hauptrolle in einem anderen Film bekommen, das schien ihr besser für die Karriere. Ich musste sie ersetzen. Zum Glück hatte ich in meinem Repertoire noch andere Mädchen, die auch urcool waren.
Im Film haben Sie auch Ihre Eltern als LaiendarstellerInnen besetzt und ihnen Regieanweisungen gegeben. Wie ist es Ihnen – und Ihren Eltern – damit gegangen?
Ayub: Meine Eltern sind schon gewohnt, dass ich die Kamera auf sie halte. Das hab’ ich als Kind schon gemacht. Der Kameramann, Enzo Brandner, hat mal gesagt: »Du bist schon sehr hart zu deinem Vater.« Ich habe geantwortet: »Nein, nein, das gehört so.« Meine Mutter ist eine urtalentierte Schauspielerin. Meinen Vater musste ich dagegen, wenn er von der Arbeit kam, einfach in eine Szene »reinschmeißen«. Für ihn war es besser, nicht zu viel vorzubereiten.
Wie gehen Sie mit solchen Last-Minute-Herausforderungen um? Sind Sie am Set eine souveräne »Kapitänin«?
Ayub: Ich denke schon. Ich bin da sehr tough. Leute, die mich vorher kennengelernt haben und dann am Set erleben, denken sich: »Das ist eine andere Person!« Na ja. Irgendwer muss halt die Ansagen machen. Sonst wird da nix gemacht!
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