Zum Hauptinhalt springen
studio! Ausgabe 1/2017

Cover Story: Neue Weichen stellen

Ein Häuschen im Grünen – oder doch lieber eine Großstadtwohnung mit Dachterrasse? Selbstständig im Coworking Space arbeiten – oder mit dem Pendlerzug ins Büro? Lebensräume und Arbeitswelten sind differenzierter denn je. studio! sucht die Antwort auf die Frage: Gibt es den idealen Platz zum Leben?

von Emily Walton

Ein Studium in Wien, eine Handvoll Praktika und Jobs im Ausland. London, New York, Sydney. Und dann kehrt man zurück in den Heimatort. In die 300- oder 3000-Seelen-Gemeinde, wo Fuchs und Hase einander »Gute Nacht« sagen. Weil es Zeit ist. Zeit, sich niederzulassen, eine Familie zu gründen. Und dafür sind ein geräumiges Haus und ein großer Garten fein. Mit Wiese hinter dem Gartenzaun und einem Kindergarten vor der Tür.

Lebensläufe wie dieser werden immer häufiger, das Wiener Zukunftsinstitut hat einen Begriff für diese Gruppe geprägt: die Neobiedermeier. Menschen, die sich, nachdem sie die Welt gesehen haben, auf die Gemütlichkeit des eigenen Heims rückbesinnen und die Idylle des Privaten schätzen. »Lange war das Einfamilienhaus der Inbegriff der Spießigkeit«, sagt Christiane Varga, Trendforscherin am Zukunftsinstitut. Auf den Bausparvertrag (und Schulabschluss, Hochzeit etc.) folgte früher das Eigenheim. Das Gelöbnis, sich mit Anfang 20 örtlich und finanziell für immer zu binden. Eine Schreckensvision? »Seit ein paar Jahren findet ein Umdenken statt«, sagt Varga. »Das Einfamilienhaus hat ein besseres Image, vor allem für Menschen rund um dreißig.«

Wir leben, wo wir wollen

Die (Groß-)Stadt, in der das Leben pulsiert, und das Dorf, in dem die Oma einen einsamen Lebensabend verbringt: Dieses Schwarz-Weiß-Bild ist überholt. »Die  Bevölkerungsgruppen werden zunehmend verschmelzen «, sagt Varga. Diese Vielfalt geht einher mit der Entwicklung, dass die allermeisten Menschen laut Zukunftsinstitut nicht mehr eine »Biografie« haben, sondern eine »Multigrafie «: mehrere Jobs, viele Partner und unterschiedliche Wohnorte innerhalb eines Lebens.

Dass gerade für Jungfamilien die ländlichen Regionen attraktiv werden, hat neben den Immobilienpreisen auch mit einem Wertewandel zu tun: Männer, die heute Väter werden, wollen mehr, als ihren Kindern nur einen Gutenachtkuss geben. Und Menschen, die tagsüber eine E-Mail nach der anderen abarbeiten, suchen Ausgleich in der Stille der Natur. Zeitschriften und Bücher, die Lust aufs Land machen, verstärken das Bedürfnis. »Vor etwa fünf Jahren hat es einen Peek der ›Landlust‹ gegeben. Die Naturidylle wurde hochstilisiert als Ort, an dem der info-überflutete Mensch wieder zu sich selbst findet«, so Varga.

(c) Christoph Liebentritt

Großstadt-Idylle

Die Sehnsucht nach Rückzug und Natur hält an – und sie lässt sich auch in der Großstadt befriedigen. »Neubauprojekte in Wien haben heute immer Grünflächen, selbst wenn es nur 40 Quadratmeter im Innenhof sind«, sagt Manuel Plachner, Immobilienmakler bei Advanta und Absolvent der FHWien der WKW. Auch dorfähnliche Strukturen sind in Städten zu finden – ein Revival der Nachbarschaft: Man trifft sich zum Urban Gardening, tauscht sich im Café am Eck aus und kauft Honig, den die Imkerin auf dem Dach des nächsten Wohnhauses anbaut. Auch Cohousing-Projekte werden in Österreichs Städten immer mehr: Man teilt sich Gemeinschaftsräume – Büros, Heimkinos, Bibliotheken, Waschküchen. So hat man all das, wofür in den eigenen vier Wänden kein Platz ist und lernt dabei auch die Nachbarn kennen.

In einer Metropole wie Wien ist alles Kann und nichts Muss. Wer Anonymität möchte, wird diese nach wie vor finden. StudentInnen und DINKS (Double Income, No Kids) schätzen diese, ebenso wie junggebliebene PensionistInnen. »Es wird nicht mehr erwartet, dass man das Haus im Dorf an die nächste Generation weitergibt. Die älteren Menschen werden dadurch ebenso flexibler«, sagt Zukunftsforscherin Varga. Wenn die Kernfamilie längst weggezogen und das große Haus am Land plötzlich kalt und leer ist, dann wird eine Großstadt mit kulturellem Angebot und vielen öffentlichen Verkehrsmitteln verlockender.

Wer alleine oder in einer Partnerschaft lebt, kann mit einer überschaubaren Wohnung auskommen. Eltern mit Kindern brauchen freilich mehr Platz. »Für Familien ist der Anschaffungspreis einer Immobilie in Wien eine große Hürde«, sagt Makler Plachner. »Für eine geräumige Wohnung mit einer großen Freifläche, also einer Terrasse oder Dachterrasse, muss man mit 500.000 Euro rechnen. Preislich liegt man da bei einem Einfamilienhaus außerhalb der Stadt.« In abgelegenen Regionen gibt es dafür sogar eine Villa.

(c) Creativmarc
Grafik: Immobilien in und rund um Wien

Quelle: www.immopreise.at (Stand März 2017)

Regionsmarketing

Nicht jedes ländliche Gebiet lockt »Wiederkehrer« und andere junge Paare. Wenn das letzte Lebensmittelgeschäft zugesperrt hat und der Bus nur noch jeden zweiten Tag fährt, sterben Dörfer. Wiens Umgebung ist davon freilich nicht betroffen: Während der Norden (Klosterneuburg) und der Süden von Wien (Mödling und Perchtoldsdorf) schon seit langer Zeit gefragt sind, haben Gemeinden wie Pressbaum und Purkersdorf im Westen gerade in den vergangenen fünf Jahren einen ungeheuren Beliebtheitsschub erlebt, so Plachner: »Die Grundstückspreise haben sich annähernd verdoppelt.«

Gemeinden, die weiter von Städten entfernt sind, müssen Aktivitäten setzen, um am Leben zu bleiben. Mobile Supermärkte oder Fahrdienste, die vom nächsten Bahnhof in entlegene Wohngegenden fahren, sind kleinteilige Services, die Großes bewirken. »Der Ausbau der Infrastruktur, die Neugestaltung eines Hauptplatzes oder die Ansiedlung von Kindergärten und Schulen machen Orte attraktiv«, sagt Makler Plachner. »Häufig ist es ein Kreislauf: Es gibt eine Neuerung, Bauträger siedeln sich an, die Infrastruktur wird noch mehr ausgebaut und lockt wiederum Bauträger an.« Auch Kleinstädte werden künftig Magnete: »Viele kleinere Städte sind wunderschön und es gibt dank der mittelständischen Unternehmenskultur in Österreich auch Arbeitsplätze«, sagt Varga.

(c) Halfpoint

Arbeiten am Land

Die Kehrseite eines Häuschens außerhalb der Stadt ist häufig der längere Weg in die Arbeit. Im Idealfall tut sich eine Jobmöglichkeit im neuen Heimatort auf. »Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass in den ländlichen Regionen nur Landwirtschaft betrieben wird«, so Varga. Viele Selbstständige entdecken, dass sie auch außerhalb Wiens gut arbeiten können. Die »Wiederkehrer« bringen von ihren Auslandsreisen Ideen mit – und den Mut, ihre Dienstleistungen von der Region aus anzubieten.

Die Immobilienpreise in ländlichen Gebieten lassen zu, ein Büro im Haus einzuplanen. Allerdings birgt ein Ein-Personen-Office die Gefahr, dass langfristig der kreative Austausch fehlt. Coworking Spaces, also Gemeinschaftsarbeitsplätze, werden in Städten längst von FreiberuflerInnen und Start-up-GründerInnen in Anspruch genommen. »Im ländlichen Raum ist Coworking als Option noch nicht sehr etabliert«, sagt der Architekt Joseph Hofmarcher. Er leitet das Projekt »Coworking Eisenstraße«. Die Region im südwestlichen Niederösterreich ist für ihre rege Produktivität in der Eisenverarbeitung bekannt und eine von 77 LEADERRegionen, gefördert vom Land Niederösterreich, dem Bund sowie der EU. Das Coworking-Projekt, das im Töpperschloss in Neubruck bei Scheibbs in den zur Landesausstellung 2015 restaurierten Räumlichkeiten untergebracht ist, soll junges Unternehmertum anlocken.

Kreativer Austausch

»Die große Herausforderung besteht darin, die Vorteile des Coworking ins Bewusstsein der Landbevölkerung zu bringen«, sagt Hofmarcher. Durch die Arbeit im Gemeinschaftsbüro wird eine räumliche Trennung zwischen Beruf und Privatleben geschaffen, diese trägt zur Work-Life-Balance bei. Hinzukommt, dass sich die MieterInnen untereinander aushelfen, häufig sogar Aufträge vermitteln. »Geschätzt wird auch das repräsentative Umfeld«, so Hofmarcher. Neben einem Arbeitsplatz gibt es die Möglichkeit, einen Besprechungsraum anzumieten. Derzeit nützen sechs Selbstständige das Gemeinschaftsbüro und profitieren vom interdisziplinären Austausch. Im März hat ein zweiter Standort in Waidhofen/Ybbs eröffnet, ein weiterer in Wieselburg ist in Planung.

(c) dphoto.at

Selbstständigkeit ist nicht die einzige Option. Betriebe, die in der Peripherie angesiedelt sind, positionieren sich als attraktive Arbeitgeber, um qualifiziertes Personal aus den Städten anzulocken. Die St. Martins Therme wurde gegründet, um die Infrastruktur des Seewinkels im Burgenland aufzuwerten. Auch hier kennt man die »Wiederkehrer«, jene Menschen, die in Ballungszentren gearbeitet haben oder im Tourismus auf Saison waren und nun in der Heimatregion arbeiten wollen. Klaus Hofmann, Geschäftsführer der St. Martins Therme, vertraut bei der Personalsuche auch auf Mundpropaganda: »Die persönliche Empfehlung in der Region ist natürlich wichtig. Es spricht sich herum, dass wir unseren Lehrlingen eine gute Ausbildung bieten und unsere Mitarbeiter fair behandeln. Für Hochqualifizierte ist es auch ein Bonus, dass wir Mitglied des Verbundes ›Vamed Vitality World‹ sind. Das bietet gute Entwicklungs- und Aufstiegschancen.« Da in der Tourismusbranche Fachkräftemangel herrscht, ist das Recruiting für das Unternehmen dennoch eine Herausforderung. »Für viele Kollegen ist aber gerade unsere besondere Lage interessant. Wir liegen direkt neben einem Natura 2000 Naturschutzgebiet und das ist spannenderweise auch ein wichtiges Argument beim Recruiting«, sagt Hofmann. Die MitarbeiterInnen nutzen das Naturerlebnis unmittelbar vor der Haustür, können nach der Arbeit Fahrrad fahren und im Sommer segeln. Der abgelegene Arbeitsort fördert den Zusammenhalt im Team. Mit 280 MitarbeiterInnen bildet die Belegschaft fast eine eigene Dorfgemeinde. Auf Führungsebene gibt es einen Manager, der gegen den Pendelstrom fährt: Er reist aus Wien in den Seewinkel, Hofmann selbst nimmt täglich den Weg von Mödling auf sich.

(c) St. Martins Therme & Lodge

Noch stellt die geografische Trennung von Wohn- und Arbeitsort eine Herausforderung dar. »In Zukunft werden wir einen Wechsel im Denken erleben«, so glaubt Zukunftsforscherin Varga. Häufig ließe sich die Angestelltenarbeit zumindest tageweise im Homeoffice oder im Coworking Space erledigen und würde das Pendeln erleichtern. Flexibles Arbeiten setzt allerdings die notwendige Infrastruktur voraus. »In Österreich gibt es einige strukturschwache Regionen, die auf Breitbandinternet warten«, sagt Varga: »Aber auch das wird sich in Zukunft ändern.« Und damit wieder ganz neue Kriterien schaffen für die individuelle Suche nach dem besten Platz zum Leben.

(c) St. Martins Therme & Lodge