Wir sind hier in der Seestadt Aspern, einem Vorzeige-Stadtentwicklungsprojekt. Das Konzept sieht vor, dass hier keine »Schlafstadt« entsteht, sondern ein lebendiger Ort, an dem Menschen leben und arbeiten. Kann das aufgehen?
Leitner: Ich bin kein Experte, der das wissenschaftlich betrachten kann, sondern nur journalistischer Beobachter. Aber ich denke, das Schwierigste bei solchen Projekten ist, auf der grünen Wiese Urbanität herzustellen und die Kleinteiligkeit und Durchmischung so zu schaffen, dass sie wie gewachsen erscheint. Hier ist es wahrscheinlich noch zu früh, um das zu beurteilen.
(Wir gehen weiter in Richtung Zentrum der Seestadt.)
Leitner: Hier wird etwas verwirklicht, was wir in der Innenstadt gerade zerstören, nämlich belebte Erdgeschosse. Sie sind es, die das Leben auf der Straße ausmachen und somit das Leben in einem Grätzel, einem Bezirk oder einem Stadtteil. Wenn man nirgends die Möglichkeit hat, reinzugehen, wird es anonym.
Können Sie eigentlich noch neutral durch Gegenden gehen oder fangen Sie automatisch an, alles zu analysieren?
Leitner: Letzteres. Aber das hängt weniger mit den Büchern zusammen, so war ich schon immer. Ich stelle mir immer vor, wo würde ich gerne wohnen? Von welchem Balkon würde ich runterschauen? Wo habe ich ein Kaffeehaus oder Wirtshaus vor der Tür?
(Wir sind am Hauptplatz der Seestadt angekommen.)
Leitner: Das hier vermittelt etwas Urbanes (zeigt zu den umliegenden Häusern), obwohl es dichter und abgeschlossener sein könnte. Abgeschlossene Plätze zählen ja überall zu den schönsten Orten, die wir als Touristen immer aufsuchen.
Wie kommen Sie eigentlich dazu, sich mit dem Thema Raumplanung und Verbauung von Landschaft zu beschäftigen?
Leitner: Durch das persönliche Leiden aufgrund der intensiven Veränderung der Landschaft vielerorts und durch die Erkenntnis, wie wir damit umgehen. Dem wollte ich auf den Grund gehen. Die These des ersten Buches ist, dass wir im Zuge der Kommerzialisierung sämtliche Lebensbereiche, darunter auch die Raumordnung, der Wirtschaftlichkeit unterworfen haben. Und deshalb Dinge passieren, die wir alle nicht wollen.
Das Bild vom Leben am Land, das wir im Kopf haben, stimmt mit der Realität oft nicht mehr überein: Der Speckgürtel breitet sich immer weiter aus und statt grüner Wiesen und kleiner Dörfer sieht man zersiedelte Gegenden und ausgestorbene Ortskerne mit Fachmarktzentren auf der freien Fläche. Ist das die Zukunft des Landlebens?
Leitner: Im Moment habe ich den Eindruck, dass wir mit hoher Geschwindigkeit in diese Richtung unterwegs sind. Wir schaffen uns großflächig solche Hybridräume, in denen wir kaum noch feststellen können, ob wir am Land oder in der Stadt sind. Das sind die Beispiele, wo zwischen der Gewerbehalle ein einsamer Traktor seine Furchen zieht und daneben der Swimmingpool des Einfamilienhauses anschließt.
Trotzdem träumen fast alle Österreicher und Österreicherinnen vom Haus im Grünen, spätestens ab dem ersten Kind. Warum ist das so?
Leitner: Ich glaube, es gibt vor allem zwei Kriterien, die die meisten beim eigenen Haus im Hinterkopf haben: Den Kindern die Möglichkeit einer Wiese zu bieten und etwas Eigenes gestalten zu können. Beides ist höchst nachvollziehbar. Es gibt aber noch viel mehr Kriterien, die hier nicht mitgedacht sind: Arbeit, Kinder in die Schule bringen, ein soziales Leben, das sich in der Nähe abspielt. Wenn ich Einfamilienhauswüsten in Speckgürteln schaffe, bei denen man für jeden Weg auf das Auto angewiesen ist, verbinde ich paradoxerweise die Nachteile von Stadt und Land.
Das klassische Einfamilienhaus wird oft für die ursprüngliche Wohnform gehalten, die wir seit Jahrtausenden leben. In Wahrheit ist es aber ein Phänomen der Nachkriegszeit.
Leitner: Die Einfamilienwohnhöhle, in der Mutter, Vater, Kind gewohnt haben – so hat die Menschheit nie gesiedelt, heute halten wir es aber für die Idealform. Wir erwarten, dass jeder vom Bürgermeister dort eine Genehmigung bekommt, wo er eine Wiese hat, und dass es möglich sein muss, mit Anfang 20 die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt zu bekommen. Wenn das nicht geht, fühlt man sich benachteiligt. Aber das Einfamilienhaus ist kein Menschenrecht.
Faktoren wie Schönheit und Ästhetik spielen kaum eine Rolle bei Stadt- und Raumplanung. Warum brauchen wir Schönheit nicht nur im eigenen Wohnbereich, sondern auch in der größeren Umgebung?
Leitner: Weil es einen großen Einfluss auf unser Befinden hat, wie es rund um uns ausschaut. Das Ungemach des alltäglichen Lebens – Streit mit den Kollegen, quengelige Kinder, schlechter Kaffee – ist in einer schönen Umgebung leichter zu ertragen. Der Zweck des Schaffens von Lebensraum kann ja nicht sein, dass er möglichst effizient, standardisiert und technologisch interessant ist, sondern dass er angenehm ist. Weil es ja ums Sein, ums Bleiben geht und nicht darum, jeden Raum nur als Durchgangsraum zu begreifen.
Welche Dinge stören Sie am meisten, wenn Sie durch die Gegend gehen oder fahren?
Leitner: Logotürme, die immer höher und greller beleuchtet werden und in unsere Landschaft reinknallen. Und riesige Gebäude, die mitten auf die grüne Wiese ohne Anbindung an vorhandene Infrastruktur gebaut werden, meist eingeschossig mit riesigen Parkplatzflächen. Das führt dazu, dass wir einen Flächenverbrauch haben in Österreich, der nicht nur aufgrund der Zahl selbst – 20 Hektar werden pro Tag verbaut – bedenklich ist, sondern auch, weil quasi für die Ewigkeit gebaut wird.
Was müsste geschehen, um der Verschandelung der Landschaft Einhalt zu gebieten?
Leitner: Es muss rechtliche Rahmenbedingungen geben, durch die wir uns künstlich Grenzen setzen, die wir in der Natur nicht mehr haben. Und so wieder zusammenrücken in dicht verbaute Siedlungsräume, die uns das Leben eh schöner machen. Wir hätten dadurch dreierlei erreicht: weniger Platz zu verbrauchen, weniger Landschaft zu verschandeln und glücklicher zu leben.
Was ist Ihr persönlicher Traum vom Lebensraum?
Leitner: Ich lebe schon dort (Anm.: im 7. Wiener Gemeindebezirk). Meine ideale Situation ist die, dass ich in einem Zentrum bin, das mir alle Möglichkeiten eröffnet und wo ich immer schnell in kurzen Wegen überall hinkomme. Wo es brummt und wurlt, aber trotz der Urbanität habe ich nicht die Anonymität.
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