BusfahrerIn, StraßenbahnfahrerIn – das sind Berufe, unter denen Kinder sich etwas vorstellen können. Wenige werden dagegen sagen: »Ich werde später Chefin der Wiener Linien!«
Alexandra Reinagl: Ich wollte als Kind tatsächlich eine Zeit lang Schaffnerin werden. Die hat es damals noch gegeben. Meine Großmutter hat im 4. Bezirk gewohnt. Dort sind wir mit dem 62er hingefahren, einer Straßenbahn, die noch einen Beiwagen hatte, in dem eine Schaffnerin gesessen ist. Die war damals eine Respektsperson – und so was hat mich immer schon angesprochen. Ich hatte damals eine Schaffner-Ausstattung für Kinder, eine Tasche und eine Zange zum Fahrschein-Zwicken, und habe dann Szenen aus der Straßenbahn nachgespielt. Mein jüngerer Bruder musste als Fahrgast herhalten.
Sie waren also kein Kind, das von den Eltern im Auto durch Wien chauffiert wurde?
Reinagl: Überhaupt nicht. Ich bin im 23. Bezirk aufgewachsen und im 10. Bezirk in die Schule gegangen. Der 66A war meine Verbindungslinie. Das war super, denn wenn ich zu spät gekommen bin, konnte ich sagen: »Der Bus ist schuld.« Im Bus hat man auch die Aufgaben gemacht, FreundInnen getroffen, sich gematcht mit älteren Herrschaften, die geglaubt haben, sie müssen schon um halb acht mit der Gießkanne zum Friedhof fahren, der auf halber Strecke gelegen ist. Und: Als eine, die weit draußen gewohnt hat, war ich damals eine der ersten Nutznießerinnen des Nachtbus-Netzes. Das hat für mich Freiheit bedeutet! Ich bin ja Generation Disko. Mit 17 durfte ich endlich fortgehen, und die Regel hat gelautet: Mit dem letzten Bus bist du daheim.
Nach der Matura haben Sie Jus studiert …
Reinagl: … und ich habe anschließend in einer Kanzlei gearbeitet. Das war aber nicht meines, wie auch der Beruf der Richterin nicht. Und so bin ich nach dem Gerichtsjahr direkt in die Stadtverwaltung gegangen, denn ich war schon immer leidenschaftliche Wienerin und habe gefunden, dass diese Stadt so gut funktioniert. Daran wollte ich mitarbeiten. Nach einiger Zeit hat man mir die Geschäftsführung des Verkehrsverbunds Ost (VOR) angeboten. Und von dort ging es nach drei Jahren weiter zu den Wiener Linien, die damals neu aufgestellt und ausgeschrieben wurden. Wenn man mich gefragt hat, ob ich mehr Verantwortung übernehmen möchte, habe ich immer Ja gesagt.
2011, als Sie die Geschäftsführung der Wiener Linien übernommen haben, gab es noch wenige Frauen in öffentlichen Schlüsselpositionen.
Reinagl: Deswegen wollte die Stadt auch gezielt mehr Frauen in Führungspositionen haben. Ich bin eine bewusste Quotenfrau und stehe auch dazu. Mir ist klar, ich muss mich noch mehr anstrengen, gerade weil ich so in der Auslage stehe.
Wie war der Umstieg vom VOR zu den Wiener Linien?
Reinagl: Wie der Wechsel von einem Golfball zu einem Medizinball: Statt 80 hatte ich auf einmal 8.700 MitarbeiterInnen. Ich habe mich vorher natürlich gefragt: Schaffe ich das überhaupt? Dann habe ich mir gedacht: Wenn ich es nicht probiere, werde ich nie die Antwort kennen.
8.700 MitarbeiterInnen führen ohne klassische Management-Ausbildung: Wie geht das?
Reinagl: Man muss Menschen mögen, gerne mit ihnen sprechen und ein Stück weit sein Herz auf der Zunge tragen. Das ist einmal eine Vorausset-zung. Und ich hatte das Glück, dass ich in der Stadt Wien an einer ganz tollen zweijährigen Führungskräfteausbildung teilnehmen durfte, die sich auch stark mit sozialer und emotionaler Kompetenz auseinandergesetzt hat.
Das klingt nach einem ungewöhnlich geraden Karriereweg: Studium, Aufstieg, Stück für Stück mehr Verantwortung. Haben Sie auch Umwege gemacht – oder sind Sie je in eine Sackgasse geraten?
Reinagl: Meine fast fertige Doktorarbeit könnte man so nennen – in die habe ich sehr viel Energie gesteckt, sie aber letzten Endes nicht eingereicht. Damals kam das Angebot für die Geschäftsführung des VOR. Zugleich war ich auch alleinerziehende Mutter eines damals vierjährigen Sohnes – da ist sich die Doktorarbeit nicht mehr ganz ausgegangen.
Was wäre denn das Thema gewesen?
Reinagl: Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs (lacht). Ich habe darin eine Art Schaltplan entworfen für die Finanzierungsströme von öffentlichen Geldern an die Verkehrsunternehmen und -verbünde. Obwohl sie nicht veröffentlicht war, ist diese Arbeit damals viel herumgereicht worden.
Als Geschäftsführerin der Wiener Linien haben Sie die digitale Wende vorangetrieben. Mit der App Wien-Mobil waren die WienerInnen unter den Ersten, die mit dem Handy ein Öffi-Ticket lösen konnten.
Reinagl: Ich sage immer, das Projekt WienMobil ist mein zweites Kind. Bei der Entwicklung habe ich von Anfang an versucht, verschiedene Bewegungsformen mitzudenken, nicht nur Bus, Bim und Bahn. Die Zukunft der Stadt wird beispielsweise auch im Fahrradfahren liegen. Auch das Auto sollten wir überdenken, oder genauer gesagt: den Auto-Besitz. Ich will, dass unsere KundInnen das Vertrauen, das sie seit über 100 Jahren in Bus, Bim und Bahn setzen, auch auf unsere Leihfahrräder oder einen Sharing-Pkw ausweiten.
Wie wichtig ist Ihnen der Nachhaltigkeitsgedanke bei all diesen Maßnahmen?
Reinagl: Der öffentliche Transport ist von Haus aus eine nachhaltige Branche. Diesen Gedanken versuche ich auch bei all meinen MitarbeiterInnen zu etablieren, indem ich etwa thematisiere, wie sie sich selbst zur Arbeit bewegen. Wir nutzen mittlerweile auch ein E-Carsharing für PendlerInnen. Hier im Haus habe ich recht schnell abgeschafft, dass in jedem Zimmer ein Drucker steht. Das hat meine Beliebtheitswerte nicht gerade gesteigert (lacht). Aber man muss nicht alles ausdrucken – auch Fahrscheine nicht.
Aus Ihrer Sicht: Wie werden wir uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten durch die Stadt bewegen? Was ist die Zukunft des öffentlichen Nahverkehrs?
Reinagl: Aus dem Nachhaltigkeitsgedanken heraus sollten wir zunächst einmal grundsätzlich überdenken, welche Wege wir überhaupt zurücklegen müssen. Ein Beispiel, das jeder kennt: Die Milch geht daheim aus. Muss ich jetzt wirklich sofort losgehen und eine neue kaufen? Oder verzichte ich halt einmal?
»Verzicht« ist ja ein äußerst unbeliebtes Wort, gerade in der Klimadebatte.
Reinagl: Das stimmt. Aus meiner Sicht aber eine der großen Antworten.
In den letzten Jahren hat Sie Ihr Job vor Herausforderungen gestellt. Da ist einmal der Ausbau der Linien U2 und U5, aktuell in Umsetzung. Und dann natürlich Corona.
Reinagl: Zu Beginn der Pandemie waren wir noch in der Planungs- und Ausschreibungsphase des U-Bahn-Ausbaus, im Jänner 2021 erfolgte mitten in der Corona-Zeit der Spatenstich für den Öffi-Ausbau U2 und U5. Als Unternehmen, in dem es nie Kurzarbeit gab, hatten wir aber auch 2020 alle Hände voll zu tun, uns zu organisieren. Ganz zu Anfang gab es etwa einen Notfahrbetrieb. Die Frage hat gelautet: Wo müssen wir auf jeden Fall hinfahren? Krankenhäuser zum Beispiel oder große Nahrungsmittel-Betriebe. Dort waren Menschen beschäftigt, die von uns abhängig waren. In den Corona-Jahren lag Tag für Tag Neues am Tisch. Viele von uns haben auch am Wochenende durchgearbeitet – darunter ich. Damals habe ich viel über Krisenmanagement gelernt und über Resilienz. Im November 2020 hatten wir dann noch den Terroranschlag…
… der sich direkt über der U-Bahn-Station am Schwedenplatz abgespielt hat.
Reinagl: Genau. An diesem Punkt haben wir uns alle gefragt: Was kann jetzt noch kommen? Zum Glück ist dieses Unternehmen ein Unternehmen, das in so einer Situation einfach zupackt, ohne sich zu viel mit sich selbst zu beschäftigen. Es war schon eine tolle Erfahrung, zu sehen: Wenn es wirklich darauf ankommt, rennt bei uns der gesamte Ablauf wie am Schnürchen.
Es gab aber auch Konflikte – wenn etwa Security-MitarbeiterInnen die Maskenpflicht überwachen sollten und Fahrgäste renitent und teilweise körperlich aggressiv wurden. Sie mussten beide Seiten mitbedenken – war das ein innerer Widerspruch?
Reinagl: Wir hatten in dieser Hinsicht schon Erfahrung durch das Rauchverbot, das wir Anfang der 2000er-Jahre durchgesetzt haben, und durch das Essverbot. Beides wichtige Verordnungen – und mit ein bisschen Augenzwinkern in der Kommunikation ist uns auch die Umsetzung gut gelungen. Beim Mund-Nasen-Schutz war es schwieriger. Wir hatten mehrmals Securitys – starke Männer – im Krankenhaus. In solchen Situationen bin ich persönlich in die Teams hineingegangen, auch zum Sicherheitsteam, und habe ihnen gesagt: »Ich weiß, es ist schwierig, aber wir müssen es nun mal machen.« Am Schluss hat ja die Masken keiner mehr wollen, weder die MitarbeiterInnen noch die Fahrgäste – auch wenn ich die Maske als sehr sinnvollen Schutz betrachte und selbst in gewissen Situationen weiterhin trage. Ab dem Zeitpunkt, an dem die Masken nur mehr im medizinischen Bereich und in den Öffis zu tragen waren, wurde es wirklich sehr schwer, zu motivieren.
Damals wurden die Wiener Linien von vielen als Symbol gesehen für das Corona-Management der Stadt Wien – oder überhaupt: als fühlbares Symbol der Stadt selbst.
Reinagl: So wie man in Österreich gerne behauptet, es gibt neun Millionen Fußballtrainer, gibt es in Wien auch zwei Millionen Verkehrsexpertinnen und -experten. Und weil sie uns so lieben, gehen sie so mit uns um. Das wäre zumindest die positive Sichtweise auf das viele Geraunze. Ich sage gerne, es ist halt so wie im Privaten: Was sich liebt, das neckt sich.
Die Wiener Linien in Zahlen
Quelle: wienerlinien.at
8.700 Mitarbeitende – rund die Hälfte davon Bus-, Bim- oder U-Bahn-LenkerInnen
2 Millionen Fahrgäste täglich
1.000 Fahrzeuge zu Spitzenzeiten gleichzeitig im Einsatz
213.000 täglich gefahrene Kilometer aller Busse, Straßen- und U-Bahnen der Wiener Linien
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