Ein Fernsehbericht war es, der Sonja Baldaufs Leben veränderte: Als sie 2004 eine Dokumentation über Friedrich Weiss, den letzten Wiener Seifensieder, und dessen Produkte sah, erwachte in ihr eine Leidenschaft. Umgehend bestellte die in der Schweiz lebende Grafikerin Seife von Friedrich Weiss – und nachdem sie diese getestet hatte, nahm sie persönlich Kontakt zum Seifensieder auf. »Ich wollte unbedingt mehr über den Hintergrund der Seife erfahren, ich wollte daran teilhaben«, sagt Baldauf.
Weiss weihte die gebürtige Vorarlbergerin in die Lehre der Seife ein, sie sichtete Berge an Material zu Wirkungsweise und Herstellung. Die damals 45-Jährige träumte davon, eine Wiener Seifen-Filiale in der Schweiz zu eröffnen. Aber so weit sollte es nicht kommen: Der letzte Seifensieder von Wien verstarb im Jahr 2006 plötzlich, die Nachfolge war ungeregelt. Ohne lange zu zögern, beschloss Baldauf, dieses Traditionshandwerk zu übernehmen. Sie kündigte ihren Bürojob bei einem Kosmetikkonzern und zog nach Wien, tauschte Bildschirmarbeit gegen Rührkessel.
Heute, elf Jahre nach Baldaufs Unternehmensgründung, zählen 70 verschiedene Sorten zum Sortiment der »Wiener Seife«. Rund 70.000 Stück gehen pro Jahr über den Tresen. Jeder Seifenbarren stammt aus dem Baldauf ’schen Rührkessel, dabei ist es inzwischen nicht Sonja Baldauf selbst, die die Seife produziert, sondern ihr Mann. Der ehemalige Banker folgte seiner Frau nach Österreich. »Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, ein Produkt zu schöpfen. Ein Produkt, das ein Gesicht hat und einen Nutzen erfüllen muss. Das ist ganz anders, als auf dem Computer ein Bild für einen Auftraggeber zu machen«, sagt Sonja Baldauf.
Dieses befriedigende Gefühl kennt auch Clemens Frankl gut. Der 32-jährige Wiener gründete gemeinsam mit Dominic Haffner das Unternehmen Ünique Skis. Die beiden Geschäftspartner kennen einander seit Kindertagen, ihre Familien verbrachten auch den jährlichen Schiurlaub zusammen. Obwohl es sie beruflich zunächst in unterschiedliche Richtungen trieb – Frankl ging in die PR, Haffner wurde Patentanwalt –, verband sie stets die Leidenschaft zum Schifahren.
2011 begannen sie in ihrer Freizeit, an der Herstellung eines Paar Schi zu tüfteln. Das Handwerk brachten sie sich weitgehend selbst bei, Unterstützung boten auch zwei Snowboard-Bauer aus Krems. »Dominic und ich hatten beide unsere Vollzeitjobs, es war zunächst nur Spaß. Unser Ziel war es, einfach einen Schi zu bauen, der nicht auseinanderfällt«, sagt Frankl.
Es gelang. Und während das Duo in der Folge am zweiten und dritten Paar Schi mit Vollholzkern (ergänzt durch Carbon) und Holzfurnieroberfläche arbeitete, kam die Idee, maßgeschneiderte Schi zu produzieren – eine personalisierte Alternative zur Massenware. 2014 startete der Verkauf. Gemeinsam mit einem ehemaligen Rennfahrer bietet das Duo Kunden eine persönliche Fahrstilanalyse auf der Piste an, im Anschluss werden in der Werkstatt im 15. Wiener Gemeindebezirk optimale Schi für den Kunden produziert. Zusätzlich zu den Maß-Schi gibt es auch Serienmodelle, ein Bereich, der künftig ausgebaut werden soll.
Hand anlegen, Liebe reinstecken
Sonja Baldauf, Clemens Frankl und Dominic Haffner zählen zu jenen Menschen, die zur aktuellen Renaissance des Handwerks beitragen. »Seit ein paar Jahren ist das Handwerk spürbar im Aufwind«, sagt Maria Smodics-Neumann, Obfrau der Sparte Gewerbe und Handwerk der Wiener Wirtschaftskammer. Jede zweite Unternehmensgründung in Österreich findet in dieser Sparte statt. »Handwerk ist viel mehr als das Produkt selbst«, sagt Smodics-Neumann. »Im Zentrum des Handwerksbetriebs steht eine Persönlichkeit. Wertigkeit sowie profundes, oftmals jahrzehntealtes Wissen werden transportiert. Und es geht auch immer um Beziehungen.«
Der/die UnternehmerIn hat Beziehungen zu seinem Produkt, zu den (meist regionalen) Rohstoffen, den MitarbeiterInnen, den KundInnen. Um diese Beziehungen zu pflegen, braucht es Leidenschaft. KundInnen kaufen neben der Qualität und den Details auch diese Liebe mit, so Baldauf: »In einem industriell hergestellten Produkt steckt keine Liebe, es steht keine Person dahinter. Die Zutaten sind zwar hinten aufgelistet, aber der Konsument kann damit wenig anfangen.«
Genährt wird die Leidenschaft des Handwerkers oder der Handwerkerin durch das direkte Feedback der Kunden: »Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn ein Kunde Fotos schickt und man sieht, wie glücklich man ihn mit dem eigenen Produkt gemacht hat. Man sieht 1:1 die Auswirkung«, sagt Schiproduzent Frankl. Es ist dieser Draht zwischen HerstellerIn und KundIn, der das lokale Handwerk in einer globalisierten, schnelllebigen Welt stärkt.
Feedback- und Reklamationsschleifen sind kürzer: Man muss das Produkt nicht einschicken, um dann wochenlang vom Kundenservice vertröstet zu werden, bis es endlich ausgetauscht und erstattet wird. Sind KundInnen bei Ünique Skis etwa unglücklich mit dem Schi, kann er direkt in die Werkstatt zu Frankl und Haffner kommen. Zudem gibt es in ganz Österreich Berg- und Schiführer, die die Schi kennen und fahren und somit beraten können. Qualität und Service stehen im Vordergrund, auch wenn dies vorerst das Wachstum bremst, so Frankl: »Meine größte Angst ist es, ein schlechtes Produkt zu machen. Deshalb schauen wir, dass wir nachhaltig und organisch wachsen.«
Für die Zukunft, nicht fürs Museum
»Allzu oft wird Handwerk gedanklich in die traditionelle, museale Ecke gesteckt. Damit wird man den erfolgreichen Betrieben aber nicht gerecht«, sagt WKW-Expertin Smodics-Neumann. »Sie sind innovativ und zukunftsorientiert, sonst könnten sie nicht bestehen und wachsen.« Gerade neue Generationen bringen oftmals frischen Wind in Betriebe und schlagen neue Richtungen ein.
Als die Wienerin Marie Boltenstern, Tochter des bekannten Goldschmieds Sven Boltenstern, das Label ihres Vaters übernahm, stellte sie auf luxuriösen Schmuck aus dem 3D-Drucker um. So kann die 28-Jährige, die Berufserfahrung in Berlin, London und Paris sammelte, ihrer Leidenschaft für Geometrie sowie für Architektur nachgehen. Mit Hilfe von Computer-Designprogrammen, wie sie auch ArchitektInnen verwenden, entwirft sie ihre aufwendigen Modelle. Der Edelmetalldrucker, den sie anschließend verwendet, schmilzt mit einem Laser Metallpulver Schicht für Schicht zu Objekten zusammen. »Winzig kleine Glieder werden nach Algorithmen ineinander gedruckt. Händisch wäre diese Fertigung geradezu unmöglich, und wenn doch, dann für den Kunden wegen des Aufwands unbezahlbar«, sagt Marie Boltenstern.
Moderne Technologien vereinfachen und verändern traditionelles Handwerk, mancherorts wandeln sich gesamte Berufsbilder. Sie ermöglichen Präzision, wie sie per Hand kaum zu erreichen ist. So wird etwa der Verlauf, also die Dicke des Kerns, der Ünique Skis mittels computergesteuerter Fräsen gefertigt. »Die Bretter müssen ein perfektes Zwillingspaar ergeben, das lässt sich nur mit der Maschine genau fertigen«, so Frankl. »Für uns ist es wichtig, die optimale Kombination aus Maschinen- und Handarbeit zu finden.«
Per Knopfdruck zum Profi
Digitale Produktionsmaschinen machen Handwerk leichter zugänglich für Ungeübte. »Im herkömmlichen Handwerk braucht man sehr viel Übung und Erfahrung, bis man etwas Ansehnliches zustande bringt. Mit Hilfe von Maschinen kommen auch Laien schnell zu schönen Ergebnissen«, weiß Karim Jafarmadar, Gründer des Happylab. In dieser offenen Werkstätte mit Standort im zweiten Bezirk in Wien sowie in Salzburg stehen Maschinen wie 3D-Drucker, Lasercutter oder Vinylplotter gegen einen monatlichen Mitgliedsbeitrag für Kreative zur Verfügung. Die Community aus derzeit 1.700 Mitgliedern reicht von GründerInnen, die Produktprototypen herstellen, über StudentInnen, die Studienprojekte umsetzen, bis hin zu HobbybastlerInnen aller Altersgruppen, die aus Spaß Modellbau betreiben, Schmuck herstellen oder T-Shirts bedrucken.
Experimentierfreudige SelbermacherInnen, die (im weitesten Sinn) mit digitalen Medien und Produktionsgeräten arbeiten, werden auch als »Maker« bezeichnet. »Die Makerszene wächst, besonders wegen des Open Source Gedankens«, sagt Jafarmadar. Bau- und Bastelanleitungen werden online geteilt und machen es Kreativen leichter, selbst zu produzieren. Diesen Gedanken des Teilens, Stichwort: Sharing Economy, sieht Jafarmadar auch als Möglichkeit für klassische Handwerksbetriebe, um künftig Maschinen optimal auszulasten. »Manufakturen können ihre Werkstätten für andere öffnen. Natürlich soll hier nicht jeder Anfänger an die Maschine, aber Fachleute, etwa Handwerker, die auf Montage sind, können die Geräte nützen«, sagt der Happylab-Gründer.
In offenen Werkstätten begegnet man Gleichgesinnten, allerdings ist man meist mit dem eigenen Projekt beschäftigt. Um den Austausch zu fördern und die Vielfalt der österreichischen Maker zu präsentieren, organisiert Jafarmadar seit 2016 die »Maker Faire« – eine Mischung aus Erfindermesse und Kirtag nach amerikanischem Vorbild. Rund 1000 Maker präsentierten heuer ihre Projekte, Mitmachstationen machten Lust auf das Handwerken. Das Motto der Maker ist »Do it yourself« – ergänzt durch den wichtigen Zusatz »Do it with others«. Ein Leitsatz für das florierende Handwerk der Zukunft.
»Quick Wins in Sachen Entspannung«
Stresscoach Brigitte Zadrobilek erklärt, wie das Handwerken Energien freisetzt und für bessere Konzentration und mehr Entspannung sorgt.
Malbücher für Erwachsene und Häkelanleitungen für Gestresste – welche Rolle spielen Handarbeit und Handwerk bei der Stressbewältigung?
Zadrobilek: Wenn wir etwas Kreatives machen, können wir gut entschleunigen. Das Gehirn wird besser durchblutet. Dadurch verändern sich die Gehirnströme und die Taktung – aus High Beta-Frequenzen, also hohen, engen Wellen, kommt es durch die Entspannung zu langsameren Low Beta- und Alpha-Wellen. Regionen des Gehirns werden zugänglich, die im Stress sonst blockiert sind. Malen, Häkeln, Nähen, Gärtnern und ähnliche Aktivitäten haben den gleichen Effekt wie Bewegung in der Natur. Linke und rechte Gehirnhälfte arbeiten besser zusammen, dadurch werden wir aufnahmefähiger und kreativer. Dies ist mitunter ein Grund, weshalb uns beim Handwerken die besten Ideen kommen.
Bringt Handwerken sofortige Entspannung?
Zadrobilek: Das bedarf sicher etwas Übung. Am Anfang gehen einem noch To-do-Listen oder Gespräche aus dem Büro durch den Kopf. Aber sobald das Gehirn in andere Frequenzen kommt, sind diese Gedanken nicht mehr so spürbar. Man erreicht einen Zustand der Gelassenheit, der einen Perspektivenwechsel zulässt. Plötzlich ist das schwierige Gespräch, das man tagsüber in der Arbeit geführt hat, nicht mehr so schlimm und nicht mehr so wichtig. Zeitmangel ist oft die Ausrede für regelmäßiges Handwerken. Aber jeder kann sich etwas Zeit freischaufeln. Es liegt in der Eigenverantwortung und erfordert Disziplin und Willenskraft.
Welche Tipps haben Sie, damit man auch beim Hand- und Heimwerken konsequent bleibt?
Zadrobilek: Suchen Sie sich Aktivitäten, die Sie in den Alltag einbauen können. Wer erst eine Staffelei aus dem Keller holen und dann alle Farben abmischen muss, hat eine größere Hemmschwelle. Die Häkelsachen hinter dem Sofa sind hingegen sofort griffbereit. Man kann zwischendurch ein paar Reihen häkeln und hat somit einen Quick Win in Sachen Entspannung.
Freude ist natürlich Voraussetzung. Oder sollen wir häkeln und malen, auch wenn es keinen Spaß macht?
Zadrobilek: Jeder muss das richtige Handwerk für sich selbst finden. Ich persönlich liebe meinen Gemüsegarten. Es entspannt mich, Samen zu setzen, Pflanzen zu ziehen, Gemüse zu ernten. Andere sehen in erster Linie nur die Arbeit und den Druck. Ich empfehle aber, es mal zu probieren: Gerade, wer einen Job hat, der viel Konzentration erfordert, findet in erdigen Dingen Entspannung. Es ist erwiesen, dass unser Gehirn um 20 Prozent mehr durchblutet wird, wenn wir etwas mit den Händen machen.
Was tun, damit das Hobby nicht zum Leistungsprojekt wird?
Zadrobilek: Ich beobachte tatsächlich häufig, dass Leistungsträger, die in ihrer Freizeit Sport treiben, schnell einen Wettkampf daraus machen. Die Gefahr gibt es natürlich auch beim Handwerken. Wichtig ist es, selbst den Druck rauszunehmen und die eigenen Perfektionsansprüche zu reduzieren. Das gelingt natürlich nicht immer von heute auf morgen. Es bedarf Reflexionsvermögens. Manchmal ist es genug, ein paar Reihen anstatt einen ganzen Pulli an einem Abend stricken zu wollen.
Wenn der Pulli aber endlich fertig ist, stärkt uns das Erfolgserlebnis.
Zadrobilek: Durchaus. In vielen Jobs haben wir ständig offene Baustellen, wir arbeiten an vielen Projekten gleichzeitig, Anfänge und Enden verschwimmen. Das belastet das Gehirn stark, da wir Dinge nicht mehr abschließen können. Viele Menschen haben dann die Sehnsucht nach etwas Eigenständigem, nach einem abgeschlossenen Produktionszyklus. Beim Handwerken haben wir dieses Erlebnis. Wir stellen etwas fertig und können uns wieder verantwortlich fühlen.
… und manchmal wird aus einem entspannenden Hobby ein neuer Job.
Zadrobilek: Wenn Menschen nicht mehr mit Freude an ihren Job gehen und großen Widerwillen spüren, können sie sich nicht mehr motivieren. Es kann dann passieren, dass man Leidenschaft und Berufung in einem Handwerk findet, das ursprünglich nur als Hobby gedacht war. Hier gilt es natürlich, sorgfältig Entscheidungen zu treffen. Man muss es sich finanziell leisten können, etwas Neues aufzubauen, und es muss auch in die persönliche Lebensphase passen.
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