Wir erreichen Sie gerade noch, bevor Sie zu den Vorbereitungen Ihres neuen Projekts aufbrechen. Wohin geht‘s da?
Lama: Mein aktuelles Projekt ist die Ostkante der Annapurna III, ein 7.500 Meter hoher Berg in Nepal, dem Heimatland meines Vaters. Die anvisierte Route gilt als eines der größten noch ungelösten Projekte im Himalaya. Gemeinsam mit meinen Partnern Hansjörg Auer und Alexander Blümel war ich schon letztes Jahr dort, wir sind bis auf 6.500 Meter geklettert, haben es aber nicht bis auf den Gipfel geschafft. Also wollen wir es im Herbst wieder versuchen. Die Expedition wird Ende September starten und geht dann insgesamt über acht Wochen. Zuerst akklimatisieren wir unsere Körper in der extremen Höhe und dann starten wir den Gipfelversuch.
Sie bezeichnen das Klettern als einen kreativen Prozess. Was meinen Sie damit?
Lama: Für mich geht es beim Bergsteigen nicht um Rekorde oder Superlative. Was mich reizt, ist, mich am Berg selbst zu verwirklichen – im Idealfall in Form von Erstbegehungen. Wenn die Wand eines Berges noch undurchstiegen ist, ist sie wie ein weißes Blatt Papier, an dem ich als Künstler meinen Stift ansetze und eine Linie ziehe. Die Linie zeigt an, wie ich die Wand durchsteige, wo ich biwakieren werde und all diese Feinheiten. Wenn die Idee, die man Kopf hatte, dann aufgeht und man die Linie so klettern kann, wird sie für andere Leute sichtbar.
Das heißt, es gibt so etwas wie die Handschrift des Bergsteigers, die man anhand der Route erkennt?
Lama: Absolut, ja, jeder hinterlässt sozusagen seine Signatur. Der Charakter des Bergsteigers spiegelt sich in der Route, die er wählt, wider. Sie zeigt, wie risikofreudig jemand handelt, wie kreativ man an die Sache herangeht und auch, wie fit jemand ist.
Was kennzeichnet Ihre Handschrift?
Lama: Ich würde sagen, mich kennzeichnet ein fairer Stil. Wir gehen nicht so wie früher, als es die großen Expeditionen mit riesigen Teams gegeben hat, die ganze Lagerketten eingerichtet haben, um den Berg richtiggehend zu bezwingen – oder noch schlimmer: zu erobern. Wir versuchen stattdessen, in leichten, schnellen Teams auf den Berg zu gehen und ihm so eine faire Chance zu geben. Wenn ich an den Masherbrum denke [Anm.: 7.821 Meter hoher Berg in Pakistan, an dessen 3500 Meter hoher, noch unbestiegener Nordostwand sich Lama 2014 das letzte Mal versucht hat], ist mein Stil sicher auch frech. Nicht in dem Sinn, dass man etwas Unanständiges tut, sondern dass man sich traut, ein bisschen weiter zu denken als die Leute vor einem.
Sie sind auf Ihren Touren oft komplett auf sich allein gestellt. Wie bewahrt man die mentale Stärke in solchen Extremsituationen?
Lama: Was alle guten Bergsteiger gemeinsam haben, ist, dass sie versuchen, rational zu denken und nicht leicht in Panik zu verfallen. Jeder Mensch hat natürlich Ängste und wenn ich an meine Projekte denke, habe ich genauso Bedenken und Zweifel. Wichtig ist aber, sich mit seinen Ängsten auseinanderzusetzen und jede mögliche Situation im Kopf durchzuspielen.
Zum Beispiel?
Lama: Wenn ich vor einer großen Wand stehe, denke ich nicht nur daran, wie ich raufsteige, sondern auch daran, was alles schiefgehen kann. Was passiert, wenn sich mein Partner auf halber Wandhöhe den Fuß bricht? Was mache ich, wenn er oder ich am Gipfel einen Kräfteeinbruch haben? Je mehr man sich mit dem Projekt auseinandersetzt, mit allen Ängsten und Zweifeln, desto mehr Lösungen hat man parat und ist nicht komplett überfordert, wenn es dann nicht optimal verläuft.
Welche Rolle spielt hier die Erfahrung?
Lama: Ich klettere seit 22 Jahren und weiß, dass Pläne und Vorstellungen in der Regel anders sind als die Realität. So eine Wand ist unglaublich komplex und viele Dinge wie beispielsweise das Wetter sind nicht vorhersehbar. Deswegen ist es wichtig, dass man seiner Intuition vertraut, aber genauso das richtige Mittelmaß zwischen Sturheit und Flexibilität wahrt.
Sie befinden sich auf Ihren Touren oft inmitten atemberaubender Landschaft. Können Sie das auch genießen?
Lama: Es gibt Momente, in denen ich das genießen kann, und solche, in denen ich die Umgebung komplett ausblende. Das Schöne an Expeditionen ist die Spannung zwischen dem Aufsaugen der Natur und dem Fokus auf ein Ziel.
Den Gipfel erreichen oder wieder unten ankommen – was ist der schönste Moment einer Tour?
Lama: Im Zweifelsfall Letzteres. Der Gipfel ist nur der halbe Weg und oft realisiere ich erst zu Hause mit einer gewissen Distanz, wie schön es war. Auch durch die Verbundenheit mit den Kletterpartnern bekommen die Erlebnisse noch einmal einen höheren Stellenwert. Davon zehrt man im Nachhinein sehr lange.
Welche Rolle spielen digitale Geräte wie Smartphone und Kamera während der Tour?
Lama: Das kommt auf die Funktion an. Es gibt Geräte wie das Satellitentelefon im Basecamp, die ein Muss bei jeder Expedition sind. Dieses Telefon hat meinem Partner Conrad Anker letztes Jahr das Leben gerettet, als er bei unserem Erstbesteigungsversuch des Lunag Ri einen Herzinfarkt erlitten hat. Genauso spielt für mich die Kamera eine große Rolle, weil ich die Leute gerne auf die Reise mitnehme. Aber wenn ich mir was aussuchen muss, ist es das Satellitentelefon. Abgesehen davon hat die digitale Welt wenig Einfluss auf das, was ich mache. Ich brauche kein Smartphone um zu klettern, das ist was Handwerkliches.
Die Familie Ihres Vaters stammt aus Nepal. Wie sehen die Leute dort Ihre Leidenschaft für das Bergsteigen?
Lama: Nepal lebt seit vielen Jahrzehnten vom Bergtourismus, weder ist man da als Kletterer der erste, noch muss man den Leuten viel erklären. Aber man muss schon sehen, dass der Großteil der Menschen dort mit existenziellen Problemen kämpft und nicht in der Freizeit auf den Berg geht. Auch wenn es mittlerweile in der Region Khumbu im Himalaya einige nepalesische Bergsteiger gibt, die sehr aktiv sind.
Welche Ziele haben Sie für die Zeit nach dem Bergsteigen?
Lama: Im Moment ist das Klettern mein Lebensmittelpunkt, dem ich mich zu 100 Prozent widme. Vielleicht gehe ich in zehn, 20 Jahren nicht mehr mit der Intensität auf den Berg wie heute, aber was dann genau sein wird, ergibt sich. Es fasziniert mich, Geschichten zu erzählen, kreativ zu arbeiten, Filme zu machen, aber derzeit verspüre ich keinen Drang, mich vom Klettern zurückzuziehen.
Was machen Sie in Ihrer Freizeit, um zu entspannen?
Lama: Eine meiner großen Leidenschaften ist das Schifahren, vor allem steile Hänge runterzufahren. Seit einigen Jahren bin ich auch begeisterter Surfer. Das Element Wasser ist etwas völlig Neues, auf das ich mich spielerisch einlassen muss.
Ist Klettern eigentlich eine Männerdomäne?
Lama: Bergsteigen und Klettern ist so komplex und vielfältig. In jeder Disziplin gibt es auch Frauen, die Bestleistungen bringen. Viele von ihnen sind der breiten Öffentlichkeit nicht wirklich bekannt, in der Szene aber sehr wohl.
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