Die Digitalisierung hat die Art und Weise, wie wir arbeiten, radikal verändert. Wir würden gern die großen Versprechen der Digitalisierung mit Ihnen »abklopfen«. Versprechen Nummer eins: Die Digitalisierung nimmt uns monotone Arbeit ab und gibt uns stattdessen Raum für Kreativität. Stimmt das?
Indset: Technologie und Automatisierung durch digitale Lösungen können uns sehr viele Tätigkeiten abnehmen, nicht nur monotone. Kurzfristig könnte man sagen, dass Menschen, die mit monotoner Arbeit beschäftigt sind, ihren Alltag kreativer gestalten können – wenn man sie lässt. Aber langfristig muss man sagen: Wenn Technologie eines kann, dann ist es, Ineffizienz zu finden. Habe ich freie Kapazitäten, dann werden sie in der Regel durch Effizienzoptimierung aufgefressen.
Versprechen Nummer zwei: Digitalisierung gibt uns Freiheit zu entscheiden, wo wir arbeiten oder wie wir uns informieren. Ist das eingetreten?
Indset: Natürlich können wir jetzt ganz anders arbeiten als früher. Ich sitze gerade in Berlin, wir können unkompliziert miteinander kommunizieren. Ob das tatsächlich mit Freiheit einhergeht, ist eine andere Sache. Die Frage ist: Informieren wir uns heute frei, indem wir bewusst nach Informationen schauen? Oder werden wir von der Information getrieben? Tatsächlich wird Information ja eher an uns herangetragen, als dass wir uns bewusst dafür entscheiden. Das gestaltet unsere Realität. Dahinter stecken ausgeklügelte Algorithmen.
Und man hat natürlich auch die Freiheit, im Urlaub zu arbeiten.
Indset: Man ist da schon getrieben. Ich glaube, dass wir eine klassische Trennung zwischen Urlaub und Arbeit nicht mehr anstreben müssen. Wir leben in einer fluiden Welt. Das Wichtigste ist, dass jeder Mensch für sich einen bewussten Umgang mit Technologie entwickelt und damit eine Realität gestaltet, in der er von der Information nicht nur getrieben wird.
Versprechen Nummer drei: Die Digitalisierung vernetzt Menschen und verbessert die Teilhabe an Wirtschaft und Gesellschaft bzw. demokratisiert sie sogar. Was sagen Sie dazu?
Indset: Unsere Gesellschaft ist alles, aber nicht demokratisch – sie ist im höchsten Maß dogmatisch. Wir leben in einer Algorithmokratie. Nicht ohne Grund ist die chinesische Wirtschaft sehr erfolgreich: Dort wird Macht zentralisiert durch Kontrolle, durch Algorithmen. Personen wie Trump, Erdogan, Putin werden viel mächtiger, wenn sie digitale Medien für ihre Zwecke nutzen. Digitalisierung führt also nicht automatisch zu mehr Teilhabe, das kann auch in die ganz andere Richtung gehen. Wir brauchen eine neue DDR – und dabei denke ich nicht an Kommunismus, sondern wir brauchen eine »Digitale Demokratische Republik«. Daran müssen wir arbeiten. Die Technologie ermöglicht das, aber wir sind gesellschaftlich noch weit davon entfernt. Wenn wir nicht umdenken, wird die Algorithmokratie immer mächtiger.
Andererseits gibt es Bewegungen wie Fridays for Future, die sich via Social Media organisieren und ihre Anliegen mit rasendem Tempo weltweit verbreiten können. Ist das nicht ein Zeichen für Demokratisierung?
Indset: Es stimmt sicher, dass digitale Medien dabei helfen, für Themen zu sensibilisieren und ein Momentum zu kreieren. Ob dadurch letztlich Veränderung herbeigeführt wird, ist wieder eine andere Frage. Und auch bei Protestbewegungen kann die Digitalisierung der Überwachung dienen: Bei den jüngsten Demonstrationen in Hongkong ist jede einzelne Person, die auf die Straße gegangen ist, mittels Gesichtserkennung registriert worden. Diese Personen werden dann gnadenlos abgestraft im Sozialsystem, sie erhalten keine Reiseerlaubnis mehr, und so weiter. Für die chinesische Regierung ist jeder Schritt der Menschen nachvollziehbar. Wir brauchen als Gesellschaft ein deutlich größeres Verständnis für diese Prozesse.
Ihr aktuelles Buch stellt die Frage: Was kommt nach der Digitalisierung? Ohne dass wir Ihr ganzes Buch hier vorwegnehmen möchten: Können Sie uns einen kurzen Ausblick geben?
Indset: Ich sehe das als philosophische Fragestellung, ähnlich wie: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wir machen uns derzeit zu wenig Gedanken über die Digitalisierung. Denn es gibt in diesem Prozess keine Grenzen: Wir automatisieren alles, wir wollen eine digitale Superintelligenz, wir sprechen von Posthumanismus und wissen nicht, was das sein soll. Wir spielen mit dem Allerheiligsten: mit dem, was ein Mensch ist. Es ist daher eine große Gefahr, da unbewusst hineinzulaufen. Bisher wird das alles bloß an der Oberfläche debattiert. Das gilt es jetzt zu ändern, sonst verlieren wir die Kontrolle. Jeder, der glaubt, dass wir einen digitalen Tsunami hinter uns haben, der sollte verstehen: Der steht uns erst bevor.
Bildungseinrichtungen wie die FHWien der WKW stellen an sich den Anspruch, Studierende fit für das Arbeitsleben der Zukunft zu machen. Was werden da aus Ihrer Sicht die Schlüsselqualifikationen sein?
Indset: Junge Menschen müssen vor allem lernen zu lernen. Information ist heutzutage für jeden zugänglich. Die Informationen, die ein Professor weitergibt, sind meistens schon veraltet, bevor das Konzept für seine Vorlesung überhaupt fertig ist. Viel spannender sind heute also Fragen wie: Wie können wir Menschen abholen, Informationen einbringen und plausibel argumentieren? Dann müssen wir lernen, zusammenzuarbeiten und in Dialog zu treten. Praktische Philosophie wäre in allen Bereichen hilfreich – vom Kindergarten bis zum Führungskräfte-Training. Gerade Menschen im Top-Management überschätzen sich häufig maßlos, weil sie kein Gegenüber haben, mit dem sie sich vertrauensvoll auseinandersetzen können. Führungskräfte brauchen nicht nur ein Financial Audit, sie brauchen auch ein Self Audit.
Was wir heute als Soft Skills bezeichnen, das sind eigentlich die wahren Hard Skills: Verletzbarkeit, Umgang mit Gefühlen, zugeben zu können, dass man nicht alles weiß. All das braucht es, um Vertrauen und Beziehung aufzubauen. Vertrauen ist eine Währung, die zustandekommt, indem ich vom Bekannten ins Unbekannte gehe. Das ist für Führungskräfte unheimlich schwierig, weil sie denken, sie müssen immer alles richtig machen und stark sein. In meiner früheren Tätigkeit als Berater habe ich gemerkt, dass sich viele Top-Führungskräfte selbst sehr im Weg stehen.
Wirtschaft und Philosophie sind zwei Disziplinen, die nicht gleich auf den ersten Blick zusammenpassen. Woher kam Ihre Idee, das zu verbinden?
Indset: Philosophische Kontemplation, die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen, die Kunst des Denkens – das gehört für mich schon immer in Unternehmen. Im Kapitalismus hat man aber lange Zeit gemeint, dass man das ignorieren kann. Dabei wissen wir heute, dass unternehmerisch unglaublich erfolgreiche Menschen wie Warren Buffett oder Bill Gates sehr viel Zeit mit Lesen und Denken verbringen. Natürlich ist das nicht so offensichtlich messbar wie bei einem Sportler, der seine Leistung verbessert, wenn er soundso viele Stunden am Tag trainiert. Wenn ich drei, vier Stunden am Tag nachdenke, reflektiere und lese – was bringt das konkret? Philosophie ist eine brotlose Kunst, deswegen ist sie heute nicht sexy. Aber diejenigen, die es schaffen, Kleinigkeiten zu beobachten, Dinge von einer anderen Perspektive aus zu beleuchten, sich Zeit zu nehmen, um nichts zu tun, kommen besser mit unserer aktuellen Zeit klar – und das führt auch zu unternehmerischem Erfolg.
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